Es geht doch bei Europa bzw. der EU nicht nur um den wirtschaftlichen Aspekt (auch wenn der leider immer im Vordergrund steht und sich das vermutlich auch noch sehr lange nicht ändern wird).
Die EU sollte weniger Wirtschaftsunion, als vielmehr eine politische Union sein. Neben allen Fehlern, die die EU zweifelsfrei hat, ist es eben auch ein großartiges Projekt, das darf man nicht vergessen. Die EU hat einen kulturell und sprachlich vielfältigen Raum geeint und einen, historisch betrachtet, von ständigen Kriegen gebeutelten geographischen Raum befriedet. Sie hat darüber hinaus der Bezeichnung Europa bzw. Europäer eine neue Bedeutung gegeben, die über die Komponente des historischen Europa hinaus geht. Leider fehlt ihr die Strahlkraft (und wohl auch der Wille der handelnden Personen), um diese Aspekte in den Vordergrund zu rücken. Denn die EU könnte weit mehr erreichen - etwa die Auflösung nationaler Grenzen und nationalen Denkens, zugunsten einer gemeinschaftlichen Ausrichtung. Dahingehend finde ich persönlich auch das Scheitern einer "EU-Verfassung" bedauerlich.
Das mag sich für den ein oder anderen nach Träumerei, oder einfach nur naiv anhören, aber ich bin der Meinung, dass man diese Seite der EU nicht vernachlässigen darf. Eine Reduzierung auf die Ökonomie ist immer (und damit meine ich in allen Lebensbereichen) ein großer Fehler (und ebenfalls naiv) und wird durch einen anderen Preis bezahlt werden müssen.
Ich möchte dir an sich nicht widersprechen, was das Ziel der EU angeht und die Funktion eben nicht nur aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Allerdings glaube ich, dass die EU gerade das nicht geschafft hat, was Du hier nennst. Es gibt eben keine europäische Linie hinsichtlich einer außereuropäischen oder innereuropäischen (was noch schwieriger scheint) Linie. Es gibt auch keine wirkliche europäische Identität. Die europäischen Werte sind ein Schlagwort mit verdammt wenig Inhalt. Man kann sich auf einen Kern einigen, der wohl stark europäisch ist - aber für den braucht es die EU nicht.
Nicht falsch verstehen, ich bin kein EU-Gegner. Ich glaube nur, dass die EU weder wirtschaftlich noch kulturell/sozial notwendig ist in dem Maße, wie teilweise gerne behauptet wird. Viele der Abkommen, die getroffen werden und wurden, sind auch unabhängig der EU möglich. Die EU böte Vorteile (gemeinsame Außenpolitik), die sie aber bislang nicht in dem Maße einlösen konnte, als dass sie als schlagkräftige Argumente herangezogen werden könnten.
Ich hätte dich auch nicht als EU-Gegner eingestuft (aber ja, man muss mittlerweile immer direkt einen "Disclaimer" dranhängen/davorschieben, sonst wird man schnell in eine Ecke gesteckt...).
Vielleicht waren meine Aussagen etwas missverständlich formuliert, deshalb versuche ich es noch einmal anders.
Ja, die europäischen Werte sind ein inhaltsarmes Schlagwort. Ja, eine wirkliche inner- und außereuropäische Linie ist nur wenig, bis gar nicht erkennbar. Ja, es gibt keine wirkliche europäische Identität. Da gebe ich dir absolut Recht und das alles ist verdammt schade, nebenbei bemerkt. Aber die EU hat das Potential all dies zu erreichen, wenn sie zukünftig anders verstanden wird. Das ist der eine Punkt.
Der andere Punkt ist aber, dass es die EU (bzw. ihre historischen Vorläufer) geschafft hat, einen geographisch weitläufigen Raum, der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein von wiederholten Kriegen geplagt war, zu befrieden und (friedlich) politisch zu vereinen (damit meine ich nicht eine gemeinsame Außen- und Innenpolitik, sondern einfach nur die Vereinigung unter dem Banner der EU). Dazu kommt, dass dieser Raum auch kulturell sehr vielfältig ist. Das ist und bleibt ein historischer und (meines Wissens) einmaliger Vorgang und eine großartige Leistung (ob man der EU dafür nun den Friedensnobelpreis aushändigen muss, halte ich für fragwürdig, aber das ist ein ganz anderes Thema). Unabhängig von all den anderen Dingen, die man an der EU zurecht kritisieren kann. Die Frage, ob das auch ohne die EU möglich gewesen wäre ist ein reines Gedankenspiel.
Diese Leistung wird nun durch aufkeimende Nationalismen gefährdet und eine fortschreitende Einigung scheint außer Reichweite zu rücken. Genau deshalb erachte ich auch das Scheitern einer EU-Verfassung (unabhängig von möglicher Kritik daran) in den 00er Jahren als große verpasste Chance. Im Rückblick auf die wenig später einsetzende Finanzkrise und dem Auseinanderfallen Europas (jedenfalls aus meiner Sicht), war es vielleicht die einzige Chance, die EU, so wie sie jetzt besteht, noch weiter zu einen.
Ich möchte deine Aussagen gar nicht infrage stellen. Möglicherweise wäre ein Europa, das auf wirtschaftlicher und politischer Ebene so zusammen arbeitet, wie es heute der Fall ist, auch ohne die EU möglich. Mir geht es vielmehr darum, die EU als historische Chance zu begreifen, ungeachtet ihrer Fehler.