Das ist sicherlich auch dem Betrachtungswinkel geschuldet. Wie ich ausgeführt habe, hätte Sanderson seine Sturmlicht-Chroniken auch stark raffen können:
Dass Brandon prinzipiell dazu neigt, ewig lange Wälzer zu schreiben, ist ja im Grunde Teil seines Trademarks. Natürlich kannst du ein 1000-Seiten-Buch wie Way of Kings raffen und kürzen. Mir geht es aber darum, ob ich beim Lesen das Gefühl habe, dass da ein Plot, eine Entwicklung und/oder eine Geschichte dahinter steht, die ich als Leser auch beim Lesen erkennen kann. Das ist zum Beispiel bei dem von dir zitierten Teil über Kaladins Gefangenschaft der Fall: Wenn du anfängst, jede Szene zu sezieren, dann gibt es in jeder Szene eine Entwicklung und ein Versatzstück, die auf den übergreifenden Plot hinarbeitet. Was Brandon hier mit Kaladin macht ist ja im Grunde nichts anderes, als einen Sport-Film oder eine Sport-Geschichte auf Fantasy und Krieg umzuschreiben: Der kleine Underdog, der einem Team von Verlierern angehört, das nur auf die Fresse bekommt, und sich zum Anführer dieses Teams aufschwingt, um durch intelligente Ideen und Drill das Team zu Ruhm und Ehre zu führen - nur um dann zu realisieren, dass außerhalb des "Spielfeldes" noch ganz andere Regeln gelten ("Sportpolitik", "Korruption", etc.).
Und genau das ist bei Tad Williams, den ich wirklich sehr schätze, leider anders. "Otherland" ergötzt sich einfach darin, dass die Protagonisten von einer wunderlichen Welt in die nächste kommen. Es gibt zwar kleinere Charakter-Entwicklungen, aber die haben, genau besehen, nichts mit der jeweiligen Welt zu tun. Bobby Dollar II ("Happy Hour in Hell") war genau dasselbe: Ein unglaublich faszinierender Trip durch die Hölle, ein orgiastisches Sammelsurium an Bildern, Charakteren, Ideen - aber die Story kam nicht voran, und vieles von dem, was passierte, war für den weiteren Fortlauf der Geschichte eigentlich egal. Das ist bei Brandon sehr selten der Fall, und es ist auch kein Zufall, dass er es geschafft hat, Wheel of Time in drei Bänden ziemlich stringent abzurunden, wo Robert Jordan sich im Sumpf seiner Welt zuvor komplett verloren hatte (und der schlagende Beweis dafür ist der letzte Band, der ja von RJ schon ziemlich vorgeplant war - das ist dann bei weitem der schwächste dieser "Brandon/RJ"-Trilogie.)
Tatsächlich hat mich dein - negatives - Feedback jetzt erst recht dazu verleitet Shadowmarch anzufangen. Mal sehen, ob ich ein anderes Fazit ziehen kann. Wobei ich auch davon ausgehe, dass die ersten Kapitel und x00 Seiten wieder ausufern.
Berichte gerne.
Man sollte dabei auch nicht vergessen, dass Shadowmarch ja ursprünglich ein Web-Roman war, an sich schon eine sehr faszinierende Idee und ein spannendes Projekt, bei dem Tad ja Kapitel sofort online gestellt hat, und die User kommentierten, Fan-Art malten und sonstiges. Das hatte aber auch den Nachteil, dass er nachträglich nichts mehr justieren konnte.
Bei Osten Ard (dank der Titel war mir entfallen) hatte mir das Ende sehr gefallen.
Wie gesagt, Tad Williams ist, als Erzähler und auch Ideengeber, prinzipiell ein ganz großartiger Mensch. Osten Ard war, erst recht für seine Zeit, ein ganz phantastischer Fantasy-Roman und der erste Vorbote für das erneute Aufleben eines Genres, das ziemlich am Boden lag. Und wie am Ende letztlich das Böse dazu beiträgt, das Böse zu besiegen, das ist schon ziemlich groß (und erinnert natürlich, wenn auch unter anderen Vorzeichen, an Gollum und den Schicksalsberg). "Otherland" finde ich bis heute bahnbrechend in seiner Vision und Idee, und die Tatsache, dass die SciFi-Aspekte noch 20 Jahre später ziemlich real wirken ist eh ein Ritterschlag. "War of the Flowers" ist ebenfalls eine ganz wundervolle Idee (und hat ebenfalls das Problem, dass die ersten 100 Seiten zu lang sind) und Bobby Dollar ist ein herrlich erfrischender Blick auf Urban Fantasy und Religion. Aber aus meiner Sicht hat Tad zu wenig Struktur in seinen Plots - und zu viele Ideen.
Außerdem fand ich gut, dass der Hauptcharakter sehr blass war. Er hatte keine besonderen Fähigkeiten und keine besondere Intelligenz. Oder anders ausgedrückt: Er war nicht magisch begabt, konnte nicht durch Kräfte durch die Luft fliegen, wurde nicht stärker und schneller weil er sich Symbole auf die Haut gemalt hat und er war auch kein großer Kämpfer. Er war jung und unerfahren und in dieser Rolle authentisch. Dass ist heute innerhalb eines Fantasy-Romans irgendwie ein Alleinstellungsmerkmal.
Mh. Weiß ich nicht, ob das ein Alleinstellungsmerkmal ist.
Richard Mayhew in "Neverwhere"? (und eigentlich fast alle Protagonisten bei Neil Gaiman)
Ein Großteil der Hauptcharaktere in GRRM Song of Ice and Fire hat auch keine herausragenden Fähigkeiten (mal von Daenerys abgesehen), genauso wenig wie Abner Marsh in "Fevre Dream" und anderen GRRM-Romanen.
Locke Lamora hat keine besonderen Fähigkeiten, von seiner Intelligenz, zu tricksen und die Stimme zu verstellen abgesehen.
Viele Protagonisten von Terry Pratchett übrigens interessanterweise auch nicht, wenn man mal genau hinsieht.
Ich würde eher sagen, der "junge, unbegabte Held" ist sowas wie ein Archetypus einer bestimmten Sorte von Geschichten innerhalb des Genres. Und Tolkiens Hobbits sind, nebenbei gesagt, sogar vermutlich das prägendste Beispiel. (Ganz allgemein lehnt sich der Osten-Ard-Zyklus schon noch relativ stark an Tolkien an.)