Lothar Rausch. Schon wieder. Wieder führt mich der Weg nach Gütersloh und wieder habe ich mein bestes Scheckbuch eingesteckt. Ich komme wieder in der kleinen Seitenstrasse an und wieder marschiere ich auf das weiße Häuschen zu. Ich merke, wie die Nachbarn aus den Fenstern blicken. Aber ich habe ein gutes Gefühl. Heute passt es. Und ich werde mich nicht wieder unterkriegen lassen.
Nach dem letzten Reinfall, als plötzlich irgendwelche Großclubs um Lothar zu buhlen schienen, habe ich einige Recherchen betrieben. Zu jenem Tage stellte sich heraus, dass tatsächlich unter anderem Real Madrid Lothar Rausch gescoutet hat. Ihr wie auch das Interesse der anderen Clubs ist aber schnell wieder erloschen. Warum auch immer. Jetzt bin ich sicher: niemand außer uns will den Jungen verpflichten.
Mit einer, wie mir durch den Adrenalinvorhang dunkel dämmert, nicht ungefährlichen Mischung aus Hochmut, Selbstsicherheit, Anspannung und Aggression, betrete ich den fein geharkten Kiesweg zum Haus.
Ich befinde mich vier Meter von der Haustür entfernt, als sich diese bereits öffnet. Ein mittelalter Mann, wohl der Vater, lächelt mich an und streckt die Hand aus. Ich halte nicht ein in meinem Schritt, sondern gehe einfach durch ihn hindurch, remple ihn dabei beiseite. Immerhin lasse ich mich zu einem „Gut’ntag“ hinreissen. Im Wohnzimmer, der mit hellem Hochflorteppich ausgelegt ist und der mit meinen Fußspuren darin – nasse Erde, Schlamm, Caterpillar-Boots und Schuhgröße 46 – einfach bezaubernd aussieht, sitzen eine Frau ebenfalls mittleren Alters, ein gelackter Typ, offenbar der Berater und Lothar Rausch selbst. Der Kleine strahlt mich an. Mutter und Berater stehen auf und strecken mir ihre Hände entgegen. Diese ignorierend greife ich in meine Innentasche und knalle mit einer ausholenden Bewegung das Scheckbuch und den Mont Blanc-Füller auf den Couchtisch. Eine Blumenvase fällt dabei um und geht zu Bruch, ebenso eine Tasse des billig wirkenden Porzellans.
„Da!“ ist mein Kommentar, geschmettert mit dem Sound der Fanfaren von Jericho.
Mutter und Berater blicken auf den Tisch und sinken nach einigen Sekunden wieder in ihre Sitzmöbel. In der Zwischenzeit ist auch der Vater reingekommen und setzt zu Sprechen an.
„Herr Way, ich muss doch bitten, was erlauben…“
Ruckartig drehe ich mich rum und halte dem Mann meinen Finger zwischen die Augen. Mein Blick reicht scheinbar, er verstummt. Ich zeige mit dem Finger auf einen leeren Sessel und Papa gehorcht. Langsam nimmt er Platz. Der Kleine Lothar scheint den Ernst der Lage nicht verstanden zu haben, denn er juchzt:
„Herr Way, wie schön!! Ich freue mich so!“
„Schnauze, Furzer!“
Stille. Es knistert. Ich beherrsche die Situation!
„Keiner von Euch – Primaten! – sagt ein Wort. Der einzige der redet, bin ich!“
Ich halte kurz inne, aber alle drei scheinen meine Worte zu verstehen.
„In diesem Heftchen da“, ich deute auf das Scheckbuch, „steht auf dem ersten Zettel eine Summe. Du da, Berater! Nimm das Heft und sieh’ nach!“
Der Berater blickt mich an. Ich habe erwartet, dass er der härteste Brocken sein würde, mit seiner Tiefenentspannung, die er beim letzten Mal an den Tag gelegt hat. Zu meiner eigenen Überraschung muss ich feststellen: da ist nichts mit Ruhe. Tatsächlich drückt er sich in das Plüschsofa, was die ganze Szene extrem kurios aussehen lässt. Ein kleiner Mann im zu großen Anzug in den Tiefen eines Plüschsofas. Ich fühle mich an Kindheitstage erinnert, in denen ich Burgen aus Polstern und Decken baute.
Jetzt sitzt er da, unsicher, klein, blaß. Seine rechte Hand hebt sich und gleitet leicht zitternd Richtung Innentasche des Jacketts.
„Vorsicht!“, belle ich. Der Berater zuckt zurück.
Ich deute mit dem Kopf auf sein Jackett.
„Watt is denn da? Hol ma raus – aber langsam!“
Wieder hebt der Berater den Arm, hält kurz inne. Nach erneuter nickender Aufforderung greift er behäbig in seine Innentasche und zieht eine kleine, durchsichtige Flasche heraus. Blaues Etikett. Ich lege den Kopf schief.
Klosterfrau Melissengeist.
Der Urquell seiner Ruhe.
„Weg schmeissen.“, sage ich tonlos.
Der Berater blickt mich an und gleitet mimisch langsam ab in das Erscheinungsbild eines dieser Wolfskinder, die das erste Mal einen anderen Menschen gesehen haben. Dann fängt er an den Kopf zu schütteln.
Mein Arm zuckt vor und zeigt auf ihn. Wie im Reflex drückt er die Flasche an sich.
„Sofort…“ Mein Gesicht erhellt sich plötzlich und ich blicke nach links, zu Lothar.
„Was denn? Schon unterschrieben?!?“, sage ich laut und lache.
Der Berater blickt entrüstet nach links.
Die Chance auf meinen Zugriff.
Ich stürze vor, ergreife die Flasche, drehe mich um und werfe sie schwungvoll aus dem großen Wohnzimmerfenster. Aus dem – geschlossenen – Wohnzimmerfenster.
Jetzt ist es offen.
Die Mutter quieckt kurz, als es scheppert, aber ich stehe nachwievor stramm und aufgerichtet im Zentrum Ihres Lebens.
„Berater!“, dröhne ich in die nun eintretende Stille. Er schaut mich vogelwild an.
„Wir reden jetzt über Kohl’n. Nimm das Scheckbuch – los!“
Er beugt sich unsicher vor und greift nach dem Scheckbuch.
„Vorsicht!“ belle ich, und der Berater zuckt zurück. Hihi, was für ein Spaß. Langsam nicke ich ihm zu und er zieht das Heft langsam zu sich.
„Aufschlagen.“
Langsam öffnet der Berater das Heft und schaut herein. Ein kaum erkennbares Lächeln zuckt über sein Gesicht.
„Diese Summe. Und NUR diese Summe.“
Langsam nickt der Mann. Ich deute ihm an, er solle das Heftchen dem kleinen Lothar zuschieben. Lothar greift danach und schaut mich an.
„Nächstes Blatt.“
Er schlägt den ersten Scheck beiseite, erblickt die Summe und nickt wild. Die Mutter neben ihm will nach dem Buch greifen, da beuge ich mich herab und schlage mit der flachen Hand auf den Tisch. Eine zweite Tasse geht zu Bruch.
„FINGER WEG, WEIB!“ Die Mutter schreckt zurück und klammert sich an die Sofalehne. Mit einer fließenden Bewegung zeige ich nach rechts, wo der Vater sitzt, behalte aber die Mutter und Lothar fest im Blick. Der Vater, der sich halb erhoben hatte, sinkt wieder in den Sessel zurück. Ich lasse einige Sekunden verstreichen. Dann greife ich in die rechte Tasche meiner abgewetzten Lederjacke und hole ein Schriftstück hervor. Den Vertrag. Ich lasse ihn auf den Platz vor Lothar flattern.
„Nimm’ das Papier, Furzer. Unten links. Unterschreiben.“ Ich schnippe ihm den Füller zu, der über den Couchtisch rutscht und dabei einige Scherben klirrend touchiert. Lothar schaut mich ängstlich an, dann den Füller. Seine Freude, mich wiederzusehen, ist in Rauch aufgegangen. Langsam nimmt er den Füller und will dann den Vertrag ergreifen, als der Berater sich erhebt.
„Gehalt?“ fragt er bemüht offensiv. Ich schaue ihm in die Augen, dann grinse ich.
„Allerdings.“ Sage ich. Der Berater blickt mich an, aber die Unsicherheit flackert deutlich in seinen Augen. Mit dieser Aussage hat er nicht gerechnet. Ich wende mich Lothar zu.
„Furzer, oben rechts steht eine Zahl. Lies sie vor.“
„Hunderttausend.“ Murmelt Lothar. Der Berater bekommt große Augen.
„Herr Way, das ist ja –„
„Weiß ich. Und jetzt Platz.“
Der Berater nimmt wieder Platz, scheint aber bereits geistig ausgeschieden zu sein. Ich blicke Lothar wieder an.
„Hör zu, Du kleiner Scheißer! Das hier findet heute das letzte Mal statt. Du nimmst jetzt diesen Füller und das Papier und malst in Deiner schönsten Erstkläßlerschrift Deinen Namen auf die Linie. Dann werden Deine Eltern, weil sie ja irgendwie noch für Dich verantwortlich zu sein scheinen, jedenfalls juristisch, das gleiche tun. Habt Ihr Analdehner das verstanden?“
Alle nicken langsam. Lothar greift nach dem Stift, schraubt die Kappe ab und setzt an. Schnell greife ich nach seiner Schreibhand und hebe warnend den Zeigefinger der anderen Hand.
„Furzer – ich sag’s Dir! Wenn Du jetzt mit irgendeiner dämlichen Ausrede kommst, irgendein Bedenken äußerst oder sonst wie irgendwie NICHT DEINEN NAMEN SCHREIBST, dann zeige ich Deinem kleinen Arsch die große weite Welt. Hast Du das verstanden?“
Mit nun deutlich verängstigtem Blick – und sehe ich da nicht auch Tränen in seinen Augen? – nickt der Kleine. Ich nehme die Hand von seiner Schreibhand, aber halte den Finger erhoben.
„Schreib’!“ sage ich langsam. Und Lothar schreibt. Er schreibt seinen Namen auf die Linie. Seinen vollen Namen. Und er schreibt seinen Namen… zu Ende. Das wäre geschafft. Ich greife den Vertrag und schiebe ihn der Mutter rüber. Die Mutter nimmt den Stift und den Vertrag und will schreiben, da ruft der Vater laut:
„Nein, Elsa, nicht!“
Ich drehe mich um und ein ausholender Rückhandschwinger meines rechten Arms beendet klatschend den Protest, als der Vater eine dreiviertel Linksdrehung vollzieht und neben dem Sessel zum Stillstand kommt. Die Mutter kreischt auf, doch ich bin schneller und halte ihr den Finger vor die Nase.
„Schnauze. Schreib’ Deinen Namen, Weib.“
Die Mutter blickt noch kurz auf ihren Mann, der sich langsam wieder auf die Füße rappelt, dann beeilt sie sich und schreibt ihren Namen auf die Erziehungsberechtigten-Linie. Sie setzt gerade den Stift ab, da ergreife ich das Papier und stecke es weg. Ich blicke einen Moment in die Runde, dann strecke ich mich und stelle mich gerade hin. Ein Lächeln umspielt meine Lippen. „So.“
Ich drehe mich dem Vater zu und hebe meine Hand. Er zuckt zurück, aber ich blicke ihn freundlich an.
„Nix für Ungut, Alter. Aber Dein Kleiner spielt zu gut Fußball, als dass er hier bleiben könnte. Dass musst Du schon verstehen.“ Mit einem Blick in die Runde drehe ich mich und schreite zur Wohnzimmertür. Dort halte ich ein. Ich greife in meine Hosentasche und schmeiße ein Bündel Hunderter auf den ramponierten Couchtisch.
„Für den Schaden. Und behaltet den Füller.“
Mit diesen Worten verlasse ich das Haus, die Strasse und hoffentlich auch für immer diese Stadt.