Ein Kommentar zu Andreasen. Ich hab mal die für mich wichtigen Aussagen dick markiert. Denn genau so sehe ich es auch:
Als Journalist und Sportsoziologe juckt es mir seit gestern Nachmittag in den Fingern: Dass der Aufreger des Spieltags, das unverkennbare Hand-Tor des 96-Profis Leon Andreasen (32) im Spiel der Fußball-Bundesliga beim 1. FC Köln (0:1), hitzige Diskussionen auslösen würde, war klar – insbesondere, da es den Niedersachsen am Ende drei vermeintlich unverdiente Punkte einbrachte.
Die unmittelbar im Anschluss an den Treffer angestoßene Fairness-Debatte ist im Hinblick auf das Fair Play-Ideal ohne Frage legitim und absolut notwendig – in welche Richtung sie jedoch nicht nur im aktuellen Fall von Andreasen, sondern auch bei ähnlichen Situationen in der Vergangenheit regelmäßig abrutscht (in dieser Größenordnung erinnere ich zum Beispiel das Phantom-Tor von Stefan Kießling in Hoffenheim 2013), darf und sollte genauso vehement hinterfragt werden.
Im Jahr 2008 schrieb ich meine Diplomarbeit an der Leibniz Universität Hannover bei Prof. Dr. Gunter A. Pilz, u.a. Fair Play-Berater des DFB, über die Entwicklung des Fairness-Gedankens im modernen, professionalisierten Fußball. Mit Bundesliga-Profis von Hannover 96 sowie Amateur-Spielern des damaligen Oberligisten Arminia Hannover führte ich damals empirische Interviews, die mir einen detaillierteren Blickwinkel auf die Thematik verschafften und zahlreiche vermutete, aber auch durchaus neue Ergebnisse zu Tage trugen.
Die Rufe der Bestürzung, die anklagenden Kommentare und die scheinheiligen Forderungen nach mehr Fairness, die jetzt wie vorbestellt wieder von TV-Experten, Fußball-Bloggern, Twitterern oder Teilen der Fangemeinde an Leon Andreasen gerichtet werden, kann ich vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehen. Der Däne ist zunächst wie erwartet der Böse, der Schelm, der „schwarze Peter“, der seinen eigenen Vorteil wider dem Fairness-Gedanken ausnutzt. Der abgebrühte Profi, der weder auf dem Platz, noch anschließend im Sky-Interview den „Mumm“ hat, sein Fehlverhalten eindeutig einzugestehen. So verständlich diese regelmäßig wiederkehrenden öffentlichen Reaktionen auf den ersten Blick auch sind – abgesehen vielleicht von den wüsten Beschimpfungen im Stadion und den heftigeren „Shitstorms“ in den sozialen Netzwerken – so wenig haben sie doch mit der Realität im modernen Leistungssport zu tun. Und zumindest ebenso wenig mit der nicht nur unter Fußball-Profis, sondern auch in den Tiefen des Amateurbereichs tatsächlich vorherrschenden Handlungsmoral.
Schaut man dieser ins Auge, darf man nur bilanzieren: Andreasen hat sich völlig normal verhalten. Der in den Statuten der FIFA implementierte Fairness-Gedanke entspricht heute keinesfalls der Auslegung unter Profis. Dies zu glauben und gar einzufordern, ist völlig illusorisch. In den Köpfen der Spieler hat sich längst ein Kosten-Nutzen-Kalkül im Sinne des Erfolgs festgesetzt. Die Grenzen verschwimmen, illegitime Mittel (taktisches Foul, „faires Foul“, Zeitspiel oder Notbremse sind nur kleine Beispiele) sind bis zu einem gewissen Grad okay, werden längst im Training gelehrt und von Trainern und Verantwortlichen auch selbstverständlich eingefordert.
Das spiegelten am Sonntag auch die Reaktionen sämtlicher auf dem Platz Beteiligten wider, die sich glücklicherweise trotz der üblichen, bohrenden Fragen nicht zu einer scheinheiligen Antwort oder einem Vorwurf in Richtung Andreasen hinreißen ließen. Weder die Kölner Profis wie Matthias Lehmann oder Keeper Timo Horn, noch FC-Trainer Peter Stöger oder Hannovers Coach Michael Frontzeck machten einen Hehl daraus, dass man Andreasen sein Verhalten unter keinen Umständen ankreiden sollte. Fußballromantikern gefällt das auf den ersten Blick natürlich nicht.
Aber da, wo der Unterschied zwischen drei Punkten oder einem Punkt am neunten Spieltag in der Endabrechnung über Millionen entscheiden kann, hat sich der Mittelfeldspieler absolut professionell verhalten. Das wissen die Beteiligten, die ihn unmittelbar nach Abpfiff brieften, ebenso gut, wie ein Großteil derer, die sich jetzt über sein fehlendes Geständnis empören. Nochmal zur Verdeutlichung: Ob ein solch abgebrühtes Verhalten im Hinblick auf den ursprünglichen Gedanken des Fair Play, der bei den viktorianischen Gentlemen im England des 18. Jahrhunderts unter völlig anderen gesellschaftlichen Bedingungen und sportlichen Voraussetzungen seinen Ursprung hatte, gutzuheißen ist, steht auf einem völlig anderen Blatt. Aber bevor in Verbänden, Öffentlichkeit und Medien scheinheilig über dieses Fair Play-Ideal diskutiert wird, darf die im aktuellen Geschäft vorherrschende Wettkampfmoral nicht ignoriert werden.
Kleiner Nachtrag: Andreasen könnte wie Neuville damals 2004 gegen Lautern gesperrt werden.