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Autor Thema: Monkey Hill Blues  (Gelesen 1162 mal)

steffanovic

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Monkey Hill Blues
« am: 04.Juli 2025, 00:22:25 »

Monkey Hill Blues
_______________________






Prolog 0.1


GONG.

Laut. Schrill. Metallisch. Er ertönte pünktlich wie immer und zerschnitt die drückende Mittagshitze wie eine Machete das Buschwerk. Ich zuckte kurz zusammen und erwachte aus meinen Tagträumen.

Ob Rosalie mich heute wohl ihren Eltern vorstellen würde? Warum sonst wollte sie, dass wir uns erst treffen, wenn sie von der Arbeit zurück sind? Normalerweise freuten wir uns doch über die sturmfreie Bude ohne die neugierigen Blicke der Eltern.

Wie aus dem Nichts stand Miss Augustin plötzlich an meinem Tisch – eigentlich erstaunlich, dass ich die äußerst korpulente Frau in den Vierzigern nicht hatte kommen sehen – und warf einen Blick auf meinen Zettel. Leer, wie fast immer. Ein paar geometrische Formen und ausgeixte Kästchen waren mein gesamtes Werk der letzten anderthalb Stunden.

"Haben wir ein Problem, Johnathan?" fragte sie, wie immer mit diesem Ton, als würde sie sich sogar darüber freuen, mir wieder einmal erzählen zu können, wie enttäuscht sie doch von mir ist, und was für eine gute Zukunft ich doch hätte, würde ich nur mitarbeiten und mich in ihrem Unterricht konzentrieren statt ... ja, was genau machte ich eigentlich stattdessen? Ich konnte diese falsche Schlange noch nie leiden. Tut immer so, als würde sie sich für die Kinder interessieren und nur ihr Bestes wollen ... Bei der nächsten Gelegenheit würde sie wieder jedem, der ihr nicht bis zum Hals in den Arsch kroch, einen reinwürgen. Natürlich hatten es diese Leute laut ihrer Meinung auch völlig "verdient", da sie keine gute Arbeitsmoral besaßen oder was weiß ich ...

Ich versuchte meine Aggression zu unterdrücken und sagte nichts. Was sollte ich auch sagen?

Während ich so tat, als würde ich noch überlegen, rannte der Rest der pubertierenden Meute bereits kreischend aus dem Raum. Die letzten beiden Mädchen sahen sich beim Hinauslaufen noch einmal zu mir um. Ich hörte sie einen kurzen Moment später draußen auf dem Flur kichern. War sicher wieder witzig, dass der einzige Weiße der Schule wieder eine Standpauke bekam und sie es brühwarm auf dem Schulhof erzählen konnten.

Auf St. Kitts, besser gesagt hier in Cayons Highschool – hinter Monkey Hill, von wo aus man auf die Hauptstadt Basseterre hinunterschauen konnte – gab es nur zwei Fraktionen: Cricket-Spinner und Fußball-Fanatiker. Beide Seiten waren überzeugt, dass nur ihre Sportart die Seele der Insel verkörperte. Auf welcher Seite ich mich sah, konnte man durch meine Beschreibung der Spieler schnell ausmachen. Es war natürlich Fußball. Cricket? Kein Kommentar.

"Haaaallooo? Jemand zu Hause?"
Miss Augustin wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum wie ein müder Animateur im Hotelpool.
"Ich glaube, ich muss wirklich mal mit deinen Eltern sprechen. So kann das nicht weitergehen."
Ihre Stimme klang dabei nicht besorgt, sondern eher verzückt, als würde sie sich freuen, ihnen endlich mal erzählen zu können, was sie von ihrem Balg so hielt.

Apropos Eltern ...Meine Mutter Alexandra war "pharmazeutisch-technische Assistentin", wie man heutzutage sagt, und hatte ihre eigene Apotheke an der Hauptstraße. Die hatte sie vor ein paar Jahren von ihrem ehemaligen Chef übernommen, nachdem dieser meinte, es wäre auf Anraten seines Arztes an der Zeit, kürzer zu treten und der Jugend jetzt auch ein Stück vom Kuchen abzugeben – nur um im nächsten Atemzug zu erwähnen, was genau er denn nun gerne an Miete hätte. Ich dachte nur, wie klein dieses Stück denn wohl sein soll ...

Sie war selten zu Hause, meistens müde, immer bemüht. Ich glaube, sie meinte es gut, aber sie wusste nicht, wie man "gut meinen" auch in "gut machen" übersetzt. Bei ihrer Arbeit störten sich die meisten der Einwohner nicht an ihrer Hautfarbe. Ich hatte eher das Gefühl, dass es dem Geschäft sogar ein wenig Auftrieb gegeben hat, da viele dachten, sie würde die "modernen" Medikamente aus Großbritannien oder den USA bekommen. Dass sie beim gleichen Pharmavertreter kaufte wie die Konkurrenz zwei Straßen weiter, hatte wohl noch niemand bemerkt. Vielleicht war es auch der nicht vorhandene, selbst ernannte Schamane – gleichzeitig Ehemann der Konkurrentin – der den Kunden zusätzlich heilende Säfte, Puppen und andersartigen Firlefanz verkaufen wollte und außerdem im Nebenzimmer seine sogenannten  "Austreibungen" vollzog, die man teilweise noch bei uns in der Straße hörte ...

Mein Vater? Johnathan Whitecliffe Sr.? Hat meine Mutter im Laufe der Jahre überredet, das langweilige England mit seinen ganzen Miesepetern zurückzulassen und hierher nach St. Kitts & Nevis auszuwandern, um im "Paradies" zu leben. Dass man auch hier für sein Geld arbeiten müsste und keiner der hier einen Job ausschrieb ausgerechnet auf ihn – den "härtesten Trinker Wycombes", wie er sich einmal stolz im Vollrausch nannte – gewartet hatte, ist ihm damals bei seinem super durchdachten Plan nicht in den Sinn gekommen. Und so ist er irgendwann mal wieder zurück aufs Festland, um zu "arbeiten", wie er damals meinte – das war vor elf Jahren. Seitdem kam nur noch ab und zu eine Postkarte aus Miami mit einem Spruch drauf wie "Chase your dreams" oder "It's always sunny in Florida". Ich hätte ihm gern mal geschrieben, dass es hier auch sonnig ist. Jeden verdammten Tag. Aber den alten Säufer interessiert außer sich selbst sowieso nichts. Und – "Klugscheißer mag niemand, Junge!", wie er damals schon immer gerne sagte, wenn ich ihn auf seine idiotischen Aussagen hinwies ...

Ich lebte also mit meiner Mutter und den ständigen Ermahnungen unseres Nachbarn "Uncle", der fand, ich sollte mit meinem schlauen Köpfchen doch mal "etwas aus mir machen". Und nein, es ist nicht mein richtiger Onkel, und nein, ich weiß auch nicht seinen richtigen Namen - weil ihn alle nur "Uncle" nennen. Als ich ihn doch einmal danach fragte, schaute er mich nur an wie ein Auto und meinte, er verstünde die Frage nicht. Danach ging er ganz schön abrupt mit seinen ziemlich schief eingehängten O-Beinen ins Haus und knallte die Tür unverhältnismäßig doll ins Schloß.

Was aus mir machen ... hier ...

Die Wahrheit war: Ich wusste gar nicht, was ich aus mir machen wollte. Ein Sportler war ich nie. Zu schmächtig für Rugby, zu klein für Basketball und zu langsam für Fußball. Und trotzdem ... Fußball hatte etwas. Kein Sport wie die anderen. Im Fußball konnte man auch von außen etwas bewirken. Fußball war ... Dreck. Schweiß. Streit. Leidenschaft auf dem Feld, und taktisch-analytisch, berechnend und psychologisch daneben. Die letzteren Eigenschaften besaß ich ...

Vielleicht mochte ich Fußball deshalb. Oder weil es das Einzige war, bei dem ich wusste, wovon ich sprach.

"Johnathan, ich rede mit dir!"
Miss Augustins Stimme klang jetzt doch einen Hauch genervter.
"Mhm", murmelte ich.
Sie schnaubte, stempelte meine "Arbeit" mit einem großen, roten Strich – und watschelte mit ihren Stöckelschuhen, auf denen Sie jedoch offensichtlich nicht sehr gut laufen konnte davon, als hätte sie gerade eine besonders anstrengende Pflicht erledigt.

Ich blieb noch einen Moment sitzen. Die Sonne warf gleißende Dreiecke durch die Fenster auf den Boden. Stimmen und Bälle hallten vom Schulhof herüber.
Und ich? Ich überlegte ob Rosalie Ihren Eltern bereits erzählt hatte das sie einen weißen Jungen mit nach Hause bringen würde. Schwarz, Weiß, Grün... - "Ist doch Scheißegal" dachte ich, woraufhin sich Miss Augustin umdrehte und mir einfiel das ich womöglich laut gedacht hatte. "Bin schon weg, keine Fragen, schönen Tag noch!" versuchte ich mich, in dem nettesten mir möglichen Ton, aus der Affäre zu ziehen. Miss Augustin verdrehte ihre Augen und wollte wohl gerade mit der nächsten Belehrung loslegen, da war ich jedoch schon samt Heft und Rucksack zur Pause auf den Schulhof verschwunden. "Hey vielleicht reicht es ja doch zum Profi" dachte ich und musste schmunzeln.







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Erstmal einen guten Abend an alle die sich hier eingefunden haben. Ich spiele schon seit über 15 Jahren FM aber hab noch nie eine Story geschrieben, dies wollte ich nun mal nachholen.
Ich mag selbst gerne ausgeschmückte Geschichten, deshalb wird das Tempo wohl dementsprechend langsam. Ihr könnt natürlich gerne Feedback dalassen, sowohl positiv als auch negativ. Wenn der ein oder andere Lust hat sich ein bisschen zu beteiligen könnte ich im laufe der Story gerne Jugendspieler nach euch benennen oder gebe ihnen den Namen den ihr euch wünscht und reagiere dann dementsprechend auf euer Verhalten.
Mal schauen wie weit ich überhaupt komme, geplant ist auf jeden Fall ein Save im Concacaf auf St. Kitts und Nevis und im weiteren verlauf evtl auch andere Länder in der Region. Ich habe auch einen Langfristigen Plan, den würde ich dann mitteilen wenn ich es schaffe hier kontinuierlich zu posten, bringt ja nichts Luftschlösser zu bauen wenn ich nicht dranbleibe nech ;) Auf jeden Fall schon mal vielen Dank für´s lesen und kommentieren und viele Grüße


« Letzte Änderung: 04.Juli 2025, 18:28:25 von steffanovic »
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Elemotion

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Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #1 am: 04.Juli 2025, 20:02:01 »

Ein sehr ausführlicher Einstieg und ein neues Fußballland im Forum, ich bin gespannt wie es weitergeht
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steffanovic

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Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #2 am: 04.Juli 2025, 20:46:24 »

Prolog 0.2


Ich lief, ohne mich umzublicken – nicht schnell, nicht gehetzt, einfach weg.
Vorbei an staubigen Wegen, leerstehenden Hütten, Kindern, die barfuß Fußball spielten. Die Sonne brannte mir in den Nacken, während der Staub sich in meinen Schuhen sammelte.

Der Himmel glühte schon leicht orange, als ich die Straße hinunterkam, die zum alten Hafen führte.
Dort, wo das Meer flach atmet.

Ich landete an der Betonplatte, auf der ich früher oft gesessen hatte.
Der Ort, an dem sich die Zeit langsamer bewegte.
Hier roch es immer nach Salz, Fisch und dem Qualm der rauchenden Fischer, die sich ihre Geschichten erzählten.
Der Wind zerrte an meiner Jacke, Möwen kreischten über mir wie streitende Geister.
Ich ließ mich fallen, die Knie angezogen, die Arme darum geschlungen.

Ich blieb dort sitzen, bis die Sonne tief über dem Wasser hing, als würde sie kurz durchatmen vor dem Untergang.
Die Schule war mir für heute egal - "Genug von Miss Augustin" dachte ich mir.
Erst jetzt zu später Stunde hatte ich den Mut gefasst und stand auf. Rosalie war längst zu Hause.

Der Weg zu ihrem Haus führte durch ein ruhiges Viertel mit pastellfarbenen Fassaden und Verandas, auf denen Kinder in alten Plastikstühlen lümmelten.
Musik wehte von irgendwo her – eine träge Melodie, die mit dem Wind spielte.
Hunde bellten in der Ferne, und aus einer Küche stieg der Duft von frittierten Teigtaschen in die Luft.
Ich kannte diesen Weg – bin ich ihn doch schon häufig in der Dunkelheit gegangen, wenn ihre Eltern längst schliefen.
Heute sollte es anders sein. Heute sollten sie mich sehen.

Schließlich stand ich vor ihrer Tür.
Ich hatte einen Kloß im Hals. Ich wusste, wie ich aussah: schlaksig, verschwitzt, irgendwie… fehl am Platz.

Als ich klopfte, öffnete sich die Tür im Bruchteil einer Sekunde, und Rosalies Mutter trat mit einem breiten Grinsen hervor.
Ich versuchte, ihrem prüfenden Blick standzuhalten – doch er hellte sich schnell auf und wechselte in einen wärmeren, freundlichen Blick und sie sagte vergnügt:
„Na, du musst also Johnathan sein.“
Ich nickte schüchtern und lächelte. „Ja, Ma’am.“
„Rosalie hat viel von dir erzählt. Komm rein.“
Ihre Stimme hatte einen schönen Klang und war von nun an sehr herzlich - und sie duftete nach Vanille. Ich mochte sie sofort.

Ich trat ein und erblickte sogleich ihren Vater, Mr. Bradshaw, der sich aus seinem „Chefsessel“ wuchtete und mich ebenfalls musterte.
Natürlich war der Sessel perfekt auf den Fernseher ausgerichtet und man sah bereits an der Verformung der Sitzfläche, dass dies wohl schon lange Zeit sein Lieblingsplatz war.
Ihr Vater war groß, breitschultrig – ein Berg von einem Mann. Schätzungsweise 1,90 m, 120 kg.
Er hatte eine Glatze, trug ein ausgewaschenes Trikot der Cayon Rockets und Shorts, die schon bessere Tage gesehen hatten.
Er trat zu mir, reichte mir die Hand.

„Mit dir treibt sich also meine Tochter rum? Name?“ fragte er trocken.
„Johnathan Whitecliffe, Sir.“ antwortete ich klar und deutlich.
„Timothy“, grunzte er. „Und kein Sir. Du gehörst ja wohl bald zur Familie.“
Er lachte – nicht laut, aber von Herzen.

„Deine Eltern sind aus England hergekommen, stimmt's?“, fragte er abschätzend.
Ich nickte.
„Ja. Aber ich bin hier geboren und aufgewachsen.“
Ein kurzes Nicken, dann ein kleines Lächeln.
„Dann bist du also einer von uns.“, stieß er nun sichtlich gelöster hervor.

Wir aßen zusammen.
Irgendwas mit Fisch – gegrillt, mit einer scharfen, orangefarbenen Soße, die einem erst beim dritten Bissen Tränen in die Augen trieb. Dazu gab’s Kochbananen, Salat mit Limettendressing und süßes Brot, das nach Rosmarin und Zucker schmeckte.
Ich hatte keinen Bissen bereut.

Wir saßen auf der überdachten Veranda. Der Ventilator summte leise über uns, eine einzelne Glühbirne flackerte leicht. In der Ferne zirpten Grillen, aus dem Radio im Haus klang dumpf Reggae von einem alten Sender und irgendein Halbstarker musste wieder allen in der Nachbarschaft den tollen Sound seines 25km/h Mopeds zeigen.

Wir redeten den ganzen Abend.
Über Fußball – Mr. und Mrs. Bradshaw waren natürlich Fans der Cayon Rockets, er erzählte von glorreichen Spielen im Warner Park, auch wenn sie meistens verloren hatten. Über Wetter – die Hitze, die Feuchtigkeit, den letzten Tropensturm. Über Schule, übers Leben.

Ich war überrascht, wie schnell ich mich wohlfühlte.
Wie leicht es plötzlich war, nicht mehr zu denken, sondern einfach zu reden.
Rosalie hatte sich neben mich gesetzt, barfuß, mit angezogenen Beinen, ein Glas Saft in der Hand. Irgendwann, es war schon längst dunkel geworden, sagte sie fast beiläufig:
„Weißt du, meine Freundin Grace hat mit neunzehn ihr erstes Kind bekommen.“
Ich sah sie an, ihre braunen Rehaugen glitzerten
„Und ich fand das immer irgendwie… schön. Ich mein, früh Kinder haben, Familie, das Leben teilen.“
Ich lächelte nur. Ein bisschen überrascht war ich schon, waren wir doch nicht einmal 18 Jahre alt.
„Ich mag Kinder.“ sagte ich um der peinlichen Stille zu entgehen.
Das stimmte sogar. In der Theorie.
In Wahrheit wusste ich: Ich war noch viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt und konnte keine Verantwortung für ein kleines Lebewesen übernehmen.
Ich war nicht bereit. Noch nicht. Vielleicht nie.

Aber ich sagte das nicht.
Manchmal reicht ein Lächeln, um Dinge unausgesprochen zu lassen.

Am Ende des Abends hatte mich Timothy ins Herz geschlossen – das spürte ich.
Er war kein Mann vieler Worte, aber er klopfte mir auf die Schulter, füllte mir ungefragt ein weiteres Glas Rum ein und sagte mit einem Zwinkern:
„Gar nicht so übel, der Junge.“

Wir waren nicht dieselben.
Aber wir verstanden uns.


 
Warner Park (Links Fussball, rechts Cricket) 3500 Plätze im Fussballstadion

Heimspielstätte der Cayon Rockets

« Letzte Änderung: 05.Juli 2025, 00:58:49 von steffanovic »
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steffanovic

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Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #3 am: 05.Juli 2025, 00:10:08 »

Prolog 1.0



Zwölf Jahre später





Ich hasse Flughäfen. Dieses künstliche Licht, das nie ganz Tag und nie ganz Nacht ist. Diese endlosen Schlangen, das nervöse Rascheln von Tickets, das ständige Piepen irgendwo.
Und trotzdem saß ich wieder in einem. Zwangsläufig.
Ich wollte mal wieder nach Hause – etwas abschalten von der Großstadt, der Arbeit, den Menschen. Ganz allgemein.
Das war es schließlich, was mir all die Jahre immer wieder Kraft gegeben hatte und meinen Akku auflud: die Sonne, der Strand, das Meer. Und natürlich Muttis Essen – das war sowieso das beste.
Der dauernde Regen in England hatte mir über die Jahre doch ziemlich zugesetzt – war ich es doch von Kindesbeinen an gewohnt, im Jahr nie weniger als 25 °C zu haben.
Zu dieser Jahreszeit hatte man Glück, wenn es in London überhaupt zweistellig wurde.

Nach dem Abi hatte ich in England studiert – Sportwissenschaften, dann Fusballmanagement und Datenanalyse , und irgendwie hatte sich daraus eine Laufbahn ergeben, die man wohl als „amateurhaft“ bezeichnen konnte.
Ich hatte bei ein paar semi-professionellen Clubs hospitiert – Sixth Tier, Seventh Tier.
Ich war der Typ mit der Mappe, der Statistiken manuell trackte, Gegner analysierte und Taktiken entwarf – während andere sich fragten, warum der Typ das alles für ’n Appel und ’n Ei plus Kost und Logis machte.
Es war nicht glamourös. Aber es war echt.
Trotz der vielen Belobigungen, wie gewissenhaft ich meine Arbeit doch erledigen würde und wie gut meine taktischen Ideen seien – umgesetzt hat man sie nie.
Geschweige denn, man hätte es ernsthaft in Erwägung gezogen, mir eine richtige Festanstellung zu geben.
Deswegen habe ich beschlossen, meinen letzten "Vertrag" zum Ende des Jahres auslaufen zu lassen – und über Weihnachten erstmal wieder nach Hause zu fahren.

Und hier war ich nun: Gerade aus London gelandet, durfte ich mich mal wieder in einem der von mir nicht favorisierten Flughäfen in den USA aufhalten und auf meinen Anschlussflug warten.
Dritter Kaffee. Terminal 5. Es war laut, schlecht klimatisiert und zu viel von allem. Zu viele Koffer, zu viele Schlangen, zu viele schlecht gelaunte Servicemitarbeiter – und auch zu viel Wartezeit.
Ich hatte vier Stunden Aufenthalt, bis es weiterging nach Basseterre. Der Anschlussflieger war ein klappriges Propellerflugzeug, das seine beste Zeit schon lange hinter sich hatte.
Wahrscheinlich brauchten sie die vier Stunden, um das Teil überhaupt wieder startklar zu bekommen.
Aber was soll's. Ich war die Route schon mehrfach geflogen – auch mit noch schlechteren Maschinen.
Bis jetzt hat es immer geklappt.
Nur hoffentlich sitze ich nicht neben Dickmobs da drüben, der gerade mit seinem offensichtlich viel zu schweren Koffer versucht, die Dame am Schalter davon zu überzeugen, dass er das wohl „immer so“ mache und noch nie extra Gebühren habe zahlen müssen. Interessierte die Dame offensichtlich nicht – denn Mopsi wuchtete seinen Koffer von der Waage auf den Fliesenboden, öffnete ihn und fing an, Süßigkeiten auszusortieren, die wohl hierbleiben müssten.
Er hatte sichtlich Probleme, sich zu entscheiden, und fing hörbar an, vor sich hin zu schimpfen:
„– Keene Kulanz, Kunde is König, dat soll the land of oppatuniti sein...“ hörte man ihn berlinern.
Guck an – ist gar kein Amerikaner, sondern ein prall gefüllter Berliner, lachte ich in Gedanken.

Meine Mutter hatte gesagt, dieses Weihnachten müsse ich unbedingt kommen.
„Du darfst das nicht aufschieben, Johnathan. Es ist wichtig.“
Was genau sie damit meinte, hatte sie nicht gesagt. Und ich hatte nicht nachgehakt.
Eigentlich feierten wir Weihnachten gar nicht großartig. Die Schokolade bekomme ich ein paar Wochen später zum halben Preis – und Bäume im Haus gibt’s bei uns auf der Insel sowieso nicht.
Also saß ich nun hier. Zwischen amerikanischen Familien mit zu vielen Kindern, schlafenden Backpackern, dem Berlinerchen und einem Plastikbecher lauwarmen Kaffees.

Ich war in den letzten Jahren häufiger nach Hause gekommen. Nicht oft, aber regelmäßig.
Meist für eine Woche, manchmal auch nur fürs Wochenende.
Meine Mutter war nie jemand gewesen, der viel verlangte – aber diesmal klang es anders.
Nachdrücklicher.

Ich starrte auf die digitale Anzeigetafel, während mein Kopf sich langsam entrollte wie ein alter Film.

Ich zuckte kaum, als der Name meines Fluges über die Lautsprecher dröhnte:
„Letzter Aufruf für den Flug nach Basseterre. Letzter Aufruf.“
Ich muss wohl doch eingenickt sein.

Im Flieger roch es nach altem Stoff und warmer Luft. Die Propeller begannen zu kreischen, als hätte jemand sie beleidigt.
Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen.
Ich hatte keinen Sitznachbarn – man muss auch mal Glück haben.



Noch zwei Stunden bis zu meiner Insel.
Noch zwei Stunden bis zur Antwort auf eine Frage, die ich noch gar nicht gestellt hatte.


« Letzte Änderung: 05.Juli 2025, 01:36:47 von steffanovic »
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steffanovic

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Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #4 am: Gestern um 03:50:35 »

Prolog 1.1






Landeanflug auf Basseterre





Die Propeller kamen klackernd zum Stillstand, während sich die Kabinentür des kleinen Flugzeugs langsam öffnete.
Keine Gangway, kein Tunnel – stattdessen eine klapprige Metalltreppe direkt aufs Rollfeld.
Ich trat aus dem Flieger und wurde sofort von einem Schwall heißer Luft empfangen – salzig, feucht, schwer.
Die Klimaanlage im Flieger hatte mich träge gemacht, meine Klamotten klebten an der Haut, und mein Hirn hinkte mir zwei Schritte hinterher.

Die Sonne brannte, als hätte sie vergessen, dass es Dezember war.
Normalerweise ist das die beste Zeit des Jahres – Trockenzeit in der Karibik.
Tagsüber klettert das Thermometer regelmäßig auf 27 Grad, nachts sinkt es kaum unter 22. Der Himmel: wolkenlos. Das Meer: warm wie eine Badewanne.
Und Regen? Gab’s höchstens als Gerücht. Der Dezember auf St. Kitts war eine klimatische Urlaubspostkarte – aber für mich war es Heimat.
Heute jedoch war selbst mir ungewöhnlich warm – vielleicht lag es am Wetterwechsel oder daran, dass ich es einfach nicht mehr gewohnt war.

Eigentlich mochte ich die Hitze. Schon immer.
Sie gehörte zu mir wie das Salz in der Luft oder das Kratzen von Sand unter den Fußsohlen.
Während andere stöhnten und nach Schatten suchten, atmete ich auf – und stellte fest, dass ich meine eine Softshelljacke noch anhatte.
Sie war weich, grau, winddicht – britisches Understatement in Textilform. Ich streifte sie hastig ab und schulterte mein Handgepäck.

Der heiße Asphalt glänzte, während ich über das Rollfeld Richtung Terminal schlenderte.
Ein Mitarbeiter in gelber Weste schob wortlos einen Gepäckwagen an mir vorbei. Ich nickte ihm zu und steckte ihm ein paar Dollarnoten in die Hand.
Sein junges, wenn auch bereits gezeichnetes Gesicht hellte sich auf.
Auch wenn die offizielle Währung der Ostkaribische Dollar war, wurde der amerikanische trotzdem lieber gesehen.
Er lächelte – eine Reihe schneeweißer Zähne mit ein paar Lücken blitzte auf.

Der Luftdruck fühlte sich schwer an – wie ein feuchter, warmer Mantel.
Aus dem nahen Gebüsch zirpten die Zikaden, laut und unermüdlich, als hätten sie nie aufgehört seit meinem letzten Besuch.
Dieses Geräusch war für mich das akustische Gegenstück zum tropischen Licht – grell, lebendig, unausweichlich.

Willkommen zu Hause
.

Der Flughafen von Basseterre – benannt nach Rosalies Urgroßvater, wie ich vor vielen Jahren erfahren hatte – war, sagen wir mal: übersichtlich.
Keine riesigen Werbebildschirme, keine Luxusshops, keine Anzugträger auf Rollkoffern. Nur ein flaches Gebäude, ein paar Palmen und ein rostiger Zaun am Ende des Rollfelds.


Robert L. Bradshaw International Airport

Ich trat durch die offensichtlich defekten Schiebetüren, die dauerhaft offen standen – vermutlich, weil niemand mehr Lust hatte, sie reparieren zu lassen.
Drinnen war es noch wärmer und stickiger als draußen.
Ich stellte mich ans Gepäckband, das mit bedächtig klappernden Metallstreben in gefühlter Zeitlupe Koffer um Koffer herausrückte.
Das Gummikarussell quietschte bei jeder Umdrehung – als wollte es sich für jahrelange Vernachlässigung beschweren.

Natürlich kam mein Koffer als Letzter.

Draußen stand ein halb verrosteter, roter Toyota-Pick-up mit einem kaputten Rücklicht in der Sonne. Auch er war eher Arbeitstier als Schönheitskönigin.
Daneben: meine Mutter. Barfuß. In einem blumigen Leinenkleid.
Sie winkte, als hätte sie mich gestern erst gesehen. Ich musste grinsen.



Schönheitskönigin?



„Johnathan!“, rief sie. „Willkommen daheim, mein Schatz!“
Sie grinste ebenfalls und schloss mich in ihre Arme.
„Lass dich mal ansehen… Du musst essen, mein Junge, sonst fällst du noch vom Fleisch“, sagte sie – wie auch bei den letzten drei Malen.
Und doch hatte ich jedes Jahr ein paar Kilo draufgepackt.

Ich warf den Koffer auf die Ladefläche, stieg ein und ließ mich in den heißen Sitz sinken der mir fast den Hintern verbrannte.
Der Geruch nach Kokosnussöl und alter Polsterung stieg mir in die Nase.

Das Auto war noch dasselbe wie damals.                                                                         
Der rote Lack blätterte ab wie bei einem schlecht lackierten Modellauto, die Beifahrertür quietschte wie eine beleidigte Gans, und der Anlasser hatte diese typische T-Zündung, bei der man nie wusste, ob man gleich losfährt oder gleich explodiert.

„Du siehst blass aus“, sagte sie und startete den Motor.

„England“, antwortete ich. „Dort ist Wärme ein Gerücht.“

„Du fährst das Ding immer noch?“
„Der fährt besser als du denkst.“

Röhr–röhr–klack–klack...
„Aha.“

Sie lachte – und ich wusste: Ich war wirklich zurück.

Die Straße vom Flughafen war wie immer voller Schlaglöcher, und der Pick-up holperte über den Asphalt, als wolle Mutter testen, ob er noch offroad-tauglich war.
Die Fenster waren offen. Der Fahrtwind roch nach Meer, Auspuff, Zuckerrohr – und natürlich irgendetwas Gebratenem.

„Du bleibst diesmal ein bisschen länger, ja?“
„Kommt drauf an.“
„Worauf?“
Ich sah sie an.
„Worauf du diesmal hinauswillst.“

Sie sagte nichts. Aber ich sah, wie sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen stahl.

Die Reifen surrten über den warmen Asphalt, Palmen rauschten am Rand vorbei und im Radio lief Cayon Caribbean FM.
Ein heiserer Moderator nuschelte irgendetwas in Patois, dann setzte ein steelpan-getränkter Reggae-Beat ein – rhythmisch, weich, ein bisschen zu laut.
Das alte Blech vibrierte mit jedem Takt, als wäre das Auto selbst der Bassverstärker.

Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen für einen Moment.
„Du siehst ja ganz hungrig aus“, sagte sie grinsend.
„Bin ich auch.“
„Tja. Ich koch heut nix.“
Ich riss die Augen wieder auf.
„Was?! Ich hab seit zwei Tagen nichts Richtiges gegessen.“
„Dann wird’s Zeit, dass du mal wieder was Gescheites bekommst. Wir essen bei den Bradshaws.“
Ich stöhnte. Laut.
„Jetzt? Ich hatte im Flugzeug einen Apfel, der nach Seife schmeckte, und einen Müsliriegel, der so trocken war, dass ich erst dachte, der wäre aus dem letzten Jahrhundert.“
„Dann freu dich. Bei Rosalie gibt’s bestimmt was Warmes.“
„Rosalie?“
Sie antwortete nicht. Stattdessen bog sie in die alte Seitenstraße ein, wo die Telegrafenmasten schief standen und jedes zweite Haus neue Farbe nötig hatte.
Ich erkannte fast jedes davon – als wäre ich nur ein paar Wochen fort gewesen.

Die Sonne stand tief, das Licht wurde goldener. Zikaden zirpten wieder um die Wette.
Als wir ums Eck bogen, sah ich das Bradshaw-Haus.
Noch immer dieses auffällige Türkis. Noch immer dieselbe hölzerne Veranda mit dem durchhängenden Moskitonetz und der klapprigen Hollywoodschaukel.
Und auf der Veranda stand sie.
Sichtlich gealtert, in einem fleckenübersäten weißen T-Shirt und einem blau gemusterten Rock –
und doch hübsch wie eh und je: Rosalie. Ihre schokobraune Haut glänzte leicht in der Abendsonne. Die dichten Locken hatte sie zurückgebunden, einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht.

Barfuß, einen Lappen in der einen Hand – der wohl gerade noch ein Fenster bearbeitet hatte – und auf dem anderen Arm ein Baby, das gerade ziemlich erfolglos versuchte, aus einer halb durchsichtigen, grünen Nuckelflasche das begehrte Innere herauszunuckeln.
Neue Flecken bildeten sich auf ihrem T-Shirt, doch dafür hatte sie in diesem Moment keinen Blick.
Sie hielt inne, sah das Auto, und ihr Blick blieb an mir hängen.

Ich schluckte.
Zehn Jahre.
Zehn Jahre waren verdammt lange für ein einfaches „Hallo“.

„Na du“, sagte sie.

Ihre Stimme klang nicht anders als früher – ein wenig rauer, ein wenig zu laut, und trotzdem voller Wärme. Als hätte sie auf mich gewartet. Nicht heute. Immer.

„Hey“, brachte ich heraus, und meine Stimme war plötzlich zehn Jahre jünger. Ich fühlte mich auch so.
Ich trat auf die Veranda. Der Holzbohlenboden knarzte unter meinen Füßen. Ich roch Seife, Zimt – und etwas, das nach Kind roch: milchig, warm, chaotisch.
Rosalie musterte mich einen Moment lang. In ihren Augen lag eine Mischung aus Überraschung, Müdigkeit – und ein winziger Rest von dem, was früher einmal zwischen uns gewesen war.

Im Wohnzimmer lief ein Ventilator, der mit jedem Umdrehen klackerte wie ein alter Projektor. Die Vorhänge bewegten sich im Luftzug, der nicht ausreichte, um die Hitze aus dem Raum zu vertreiben.

Dort saß Mr. Bradshaw.

„Johnathan“, sagte er knapp, aber nicht unfreundlich. Die Stimme rauer als früher, das Haar grauer, der Blick aber noch immer scharf wie Machetenstahl.

„Timothy“, nickte ich zurück.

Ich trat ein. Ich wusste inzwischen: Er war nicht nur Rosalies Vater.
Sein eigener, politisch einflussreicher Vater hatte ihn damals – kurz vor seinem Tod – als Präsident der Cayon Rockets installiert, um den Verein vor der Insolvenz zu bewahren.
Jenen kleinen, ehrgeizigen Klub, den ich früher als Junge mit pochendem Herzen vom staubigen Hügel aus verfolgt hatte. Immer mit schmutzigen Knien, verschwitztem Shirt und einer Tüte Tamarindenbonbons in der Hand.

Wir aßen zusammen auf der Veranda. Der Tisch war aus hellem Holz, wackelig, aber voller Farben. In einer matten Schüssel dampfte ein scharfer Huhn-Eintopf – so würzig, dass meine Lippen bereits vor dem ersten Bissen leicht zu kribbeln begannen.
Dazu Süßkartoffeln, gegrillt und mit Limettenschale bestreut. Und ein Salat mit Mango, roten Zwiebeln und irgendetwas Undefinierbarem, das so scharf und süß zugleich war, dass mir beinahe die Tränen kamen. Nicht wegen der Zwiebeln.

Wir redeten über London. Über das Wetter. Über Flugverspätungen.
Rosalie ließ das Baby bei ihrer kleinen Schwester – die, wie ich jetzt erst bemerkte, im Nebenzimmer saß und zwei identisch aussehende Babys in den Schlaf wiegte – und brachte stattdessen frischen Eistee. Es war eine dieser Mahlzeiten, bei denen alle wussten, dass noch etwas kommen würde – aber niemand den Anfang machen wollte.

Dann, irgendwann, lehnte sich Mr. Bradshaw zurück und ließ seinen Nacken von einer zur anderen Schulter kreisen. Es knackte ungesund. Seine Ellenbogen ruhten auf dem Tisch, seine Stimme wurde tiefer.

„Du hast bestimmt mitbekommen, dass wir abgestiegen sind.“

Er sagte es, als sei es ein persönlicher Verrat – nicht nur ein sportliches Versagen.

Ich runzelte die Stirn. „Was? Abgestiegen?“

„Ich dachte, du hättest dich mal informiert.“

„Ich dachte, du hättest mir sowas gesagt“, entgegnete ich entrüstet.

„Ich musste arbeiten“, erwiderte sie, verdrehte leicht die Augen und schüttelte nur unmerklich den Kopf.

Timothy schob seinen Teller zur Seite.

„Deine Mutter hat erzählt, was du in England gemacht hast. Studium, Praktika bei gar nicht so unbekannten Vereinen – aber keine Festanstellung.“
Er sah mir direkt in die Augen.
„Und ich erinnere mich noch genau, wie du früher auf dem Hügel saßt, um einen besseren Blick auf das ganze Spielfeld zu bekommen.
Man muss auch mal aus einem anderen Blickwinkel schauen‘ – hast du schon als kleiner Knirps gesagt.“


„Ich war sechzehn“, warf ich ein.

„Du hast nicht einfach nur geguckt – du hast gelesen. Spielverläufe, Schwächen, Muster.“
„Der letzte Trainer hat gedacht, er wär hier im verdammten Ferienlager.
Hat einmal die Woche ein Lauftraining angesetzt und Motivationssprüche vom Band geleiert, die kein Mensch ernst genommen hat – statt die Spieler wie Vollprofis zu behandeln.
Keine Gegneranalyse, keine Videoauswertung, keine GPS-Westen. Und wenn einer mal gefragt hat, ob wir auch mal mit dem Ball trainieren, wurde er ignoriert oder gleich auf die Bank gesetzt.“


Vollprofis und GPS-Westen in einem semi-professionellen Verein – ja, ne, ist klar, dachte ich. Sagte aber nichts.

Er nahm einen tiefen Schluck Wasser und fuhr mit erhobener Stimme fort:

„Und dann dieses Rumgeeiere vor der Presse! Als ob wir hier am Tabellenende rumdümpeln wollen. Ich hab ihn gefragt, wo zur Hölle er glaubt, dass wir hier sind – da sagt der: ‚Das ist nicht meine Baustelle, nicht meine Insel.‘
Nicht seine Baustelle, wer bezahlt ihn denn bitteschön?!
Die letzten Jahre waren wir konstant dritte oder vierte Kraft im Land – hinter St. Paul’s United, St. Peter’s FC und den Village Superstars.
Und jetzt kommt so ein Neffe vom Sportdirektor und meint, ihm hätte vor der Saison niemand gesagt, dass wir überhaupt sportliche Ziele hätten!“




Ich dachte: Eigentlich alles wie immer. Nur hat es diesmal hatte der Trainer wohl gar keine Ahnung und es hat nicht mehr gereicht nur so zu tun als ob.
Irgendwann fällt der ganze Müll eben auf. Laut sagte ich nichts.

Timothy lehnte sich vor, Ellbogen auf den Tisch, die Stirn voller Falten.

„Versteh mich nicht falsch – dass er der Neffe vom Sportdirektor war, wusste ich. So läuft das hier eben. Aber ich dachte, er hätte Ahnung. Zumindest hatten sie’s mir so verkauft.
Vielleicht hab ich die Zügel etwas schleifen lassen. Aber das ist jetzt vorbei.“

Er dampfte förmlich vor Wut, beruhigte sich dann aber ein wenig und fuhr bestimmt fort.
„Ich greife wieder selbst ins Geschäft ein. Der Trainer hatte keinen Draht zur Mannschaft, keinen Draht zur Insel, keinen Respekt vor dem, was wir hier aufgebaut haben.
Es geht nicht nur um Fußball. Es geht darum, unser Dorf in einem besseren Licht zu zeigen und die Hauptstadtklubs ärgern.
Darum, was du den Jungs mitgibst, wenn sie vom Platz gehen. Wie du sie besser machst. Wie du ihnen das Gefühl gibst, dass sie für etwas spielen, das größer ist als sie selbst.“

Stille.

„Du hast das mal verstanden. Auch wenn du damals noch ein kleiner Hosenscheißer warst mit mehr Sonnenbrand als Ahnung – du hast verstanden, was hier zählt.“

Jetzt ging er zu weit, dachte ich. Aber ich traute mich nicht, ihm ein weiteres Mal ins Wort zu fallen.
Ich sah zu Rosalie. Sie schaute weg.

Mr. Bradshaw trank sein Glas in einem Zug leer. Diesmal war es jedoch kein Wasser, sondern Selbstgebrannter den er sich kurz zuvor aus einer nicht etikettierten Flasche eingegossen hatte.
Er verzog keine Miene und stellte das Glas mit einem dumpfen Klang auf den Tisch. Er hatte sofort wieder meine volle Aufmerksamkeit.

„Wir haben den Trainer entlassen. Und den Sportdirektor gleich dazu. Die Jungs brauchen Struktur, neue Inspiration – und jemanden, der die Gepflogenheiten hier kennt. Und es ernst meint.
Ich glaube, du hast das im Blut.“


Ich hatte das Gefühl, dass sich alle Augen auf mich richteten. Ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte.

Dann sagte er es.

„Ich will, dass du den Verein übernimmst.“

Ich lachte. Kurz. Ein bisschen zu laut. Es klang falsch.

„Du meinst das ernst?“

Er nickte. Langsam. Die Stirn leicht gerunzelt – wie jemand, der seine Entscheidung nicht verkaufen will, sondern einfach ausspricht, wie sie ist.

„Wir brauchen frischen Wind. Und du gehörst hierher. Du kommst von hier.“

Ich drehte den Kopf zu meiner Mutter. Sie sagte nichts. Aber sie sah mich an, wie nur Mütter einen ansehen können, wenn sie hoffen, dass man das Richtige tut.
„Ich… ich muss eine Nacht drüber schlafen“, sagte ich – ein wenig überfordert.

Keiner widersprach. Doch Mr. Bradshaw wirkte leicht verärgert. Schließlich bekam man nicht jeden Tag das Angebot, Trainer seines Heimatvereins zu werden – schon gar nicht als Neuling.

Der Ventilator klackerte weiter. Für einen Moment war es vollkommen still. Draußen zirpten die Zikaden.

„Na, dann wollen wir mal“, durchbrach meine Mutter die peinliche Stille.
Alle standen gleichzeitig auf – wie zum Appell.

„Danke für das tolle Essen“, sagte ich. „Schön, euch mal wieder gesehen zu haben.“
Ich blickte erst zu Rosalie, dann zu Mr. Bradshaw.

An der Tür umarmte ich Rosalie ein letztes Mal. Sie roch nach Vanille – wie ihre Mutter damals.
Sie fehlte uns allen.

Auf dem Heimweg sprachen wir kaum. Ich hielt meine Hand aus dem offenen Fenster und fing damit die Abendluft ein.
Es war angenehm abgekühlt. Und ich war hundemüde.
Überrascht, verwirrt, ein wenig geschockt – aber hauptsächlich müde.

„Wir sind da“, sagte meine Mutter, als sie in die Einfahrt einbog und mich aus meinem kurzen Halbschlaf weckte.
Der Kies knirschte unter den Reifen, das Haus lag still in der Dämmerung.
Eine Lampe über der Tür summte leise und lockte ein Dutzend Motten an.
Sie schlug die Fahrertür etwas unsanft zu, und ich zuckte zusammen – wie aus einem Traum gerissen.

Ich stieg aus, nahm meinen Koffer aus dem Wagen und schleppte ihn mit letzter Kraft ins Haus.
Drinnen war es dunkel. Keiner von uns machte das Licht an – „Um kein Viehzeug anzulocken“, wie Mutter immer sagte.
Ich brauchte auch keins. Alles war noch an seinem Platz. Genau wie beim letzten Mal.

Den Koffer ließ ich im Flur stehen. Ich taperte ins Schlafzimmer und fiel einfach auf die Matratze – noch angezogen, verschwitzt, der Kopf brummte.
Ich hatte es nur noch geschafft die Schuhe auszuziehen.


Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war mein Zimmer schon taghell. Für einen Moment dachte ich, ich hätte bis mittags geschlafen – die Luft roch schon wieder nach Hitze.

Ich spritzte mir am Waschbecken etwas Wasser ins Gesicht, machte mich notdürftig frisch und trottete in die Küche.
Dort stand der erste Kaffee des Tages – viel Milch, viel Zucker. Wie immer. Nice and Sweet. Diese Gewohnheit hatte ich selbst in England nie abgelegt.
Und trotzdem waren meine Blutzuckerwerte in Ordnung, zum Unverständnis des testenden Arztes.

„Zigaretten“, murmelte ich. Wo waren meine Zigaretten?
Ich hatte seit dem Aussteigen aus dem Flugzeug keine mehr geraucht dämmerte es mir plötzlich. Jetzt machte sich das deutlich bemerkbar – ich war nervös, fahrig, innerlich unruhig.
„Meine zweite, noch ungesündere Gewohnheit – die alten Sargnägel – hatte ich bisher auch nicht ablegen können. Ehrlich gesagt hatte ich es auch noch nie wirklich versucht.“

„Gut geschlafen?“, fragte meine Mutter, während sie eine Schüssel mit geschnittenen Papayas auf den Tisch stellte.
Ich nickte nur und betrachtete meine Haare in der Spiegelung des Fensters. Ich sah aus, als hätte mich ein tropischer Sturm getroffen – oder als hätte ich mit dem Finger in der Steckdose geschlafen.

„Und? Sag jetzt nichts Falsches. Timothy ist schon ganz nervös“, sagte sie mit einem Lächeln, das mehr verriet, als es sollte. Sie versuchte, es beiläufig klingen zu lassen – aber ich hörte die stille Hoffnung in ihrer Stimme.

Ich zuckte mit den Schultern.
Ich konnte es selbst kaum glauben, was da gestern passiert war. Ich – Trainer? Dass ich nicht lache.
Aber wenn ich ehrlich bin: Genau das war doch eigentlich schon immer mein Ziel. Vielleicht nicht hier. Vielleicht nicht bei den Rockets.
Aber dafür hatte ich England doch überhaupt erst auf mich genommen, dafür hab ich doch für einen Hungerlohn hospitiert, dafür hatte ich doch alles gelernt, was man wissen musste.
Vielleicht war genau das der Punkt. Vielleicht musste ich zurück zu meinen Wurzeln und hinaus in die Welt zu kommen, vielleicht würde sich hier eine Karriere ergeben, vielleicht müsste ich einfach nur die Gelegenheit ergreifen.

„Ich fahr erstmal zum Trainingsgelände. Vielleicht ist ja noch jemand da, den ich kenne“
, sagte ich schließlich.

Ich nahm einen Schluck vom Kaffee, stellte die Tasse ab und warf einen Blick auf die Uhr. 9:45 Uhr. Wenn sie heute trainierten, musste ich mich sputen.

„Na dann sieh zu, dass du noch rechtzeitig hinkommst, sonst sind sie schon fertig, wenn du auftauchst“, rief meine Mutter hinter mir her.
„Und iss was, mein Junge – sonst fällst du mir noch vom Fleisch. Ich mach dir schnell was zum Mitnehmen, während du dich fertig machst.“

Ein Grinsen huschte über mein Gesicht.
Klasse. Erster Urlaubstag – und schon wieder im Stress.
Ich sprang unter die Dusche, schnappte mir mein Zeug, gab meiner Mutter einen Kuss auf die Wange und und ließ nur noch eine Staubwolke zurück.
Ich hatte keine Ahnung, dass ich in einer Stunde nicht nur alten Bekannten wiedersehen würde – sondern auch vor einer Entscheidung stand, die alles verändern könnte.
« Letzte Änderung: Gestern um 04:39:26 von steffanovic »
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Signor Rossi

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Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #5 am: Gestern um 08:27:14 »

Die Story gefällt mir ausgesprochen gut, bitte weiter so!
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Karagounis

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Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #6 am: Gestern um 10:25:08 »

Sehr schön geschrieben und schöne exotische Station! Das werde ich gerne verfolgen!

MorbusDerbe

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Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #7 am: Gestern um 11:00:15 »

Bis hierhin klasse. Gefällt mir auch sehr in der Ausführlichkeit! Werde sehr sicher dabeibleiben. Bitte weiter so!!
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steffanovic

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Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #8 am: Gestern um 15:09:39 »

@Signor Rossi, @Karagounis, @MorbusDerbe

Vielen lieben Dank euch allen – freut mich wirklich sehr, dass euch der Einstieg gefallen hat! 
Gerade zu Beginn ist so ein Feedback enorm motivierend, vor allem, da ich mir ehrlich gesagt nicht sicher war, ob der gemächliche Aufbau überhaupt jemanden anspricht. 
Bisher gab’s ja eher tropische Selbstfindung als Taktiktafel, und mit Ball ist auch noch nicht viel passiert. 😅 
Umso schöner, dass ihr trotzdem dranbleibt!

Ich hoffe, die kommenden Teile treffen weiterhin euren Geschmack. 
Danke euch – und bleibt mir gewogen! 👋
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MorbusDerbe

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Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #9 am: Gestern um 15:31:50 »

Ich denke gerade wegen des gemähchlichen Aufbaus mag' ich die Story bis dato.
Mir gibt das auch 'ne andere Bindung zum Charakter der Story, wenn man weiß mit wem man da die Story erlebt.

Freue mich auf die nächsten Teile!  :)
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Signor Rossi

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Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #10 am: Gestern um 19:54:26 »

Geht mir auch wie MorbusDerbe. Das darf auch gerne so weiter gehen, ich persönlich lese so eine Story lieber als mir viele Screenshots anzusehen.
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steffanovic

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Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #11 am: Gestern um 22:02:02 »

Prolog 1.2


Die Sonne stand schon etwas höher, als ich mich auf den Weg zum Stadion machte.
Im Auto roch es nach dem, was meine Mutter mir eingepackt hatte – zwei dick belegte Sandwiches auf süßlichem Maisbrot, mit gebratenem Hühnchen, scharfer Mango-Paste und ein paar Scheiben Avocado.
Nichts Aufwendiges, aber karibisch, sättigend und, wie immer, mit Liebe gemacht.

Ich bog auf die Landstraße Richtung Westen ab, schob das erste Sandwich aus der Alufolie und biss ab.

Es schmeckte wie Heimat. Knusprige Kruste, saftiges Fleisch, scharfe Süße.
Ich kaute langsam, versuchte, jeden Bissen zu genießen und jeden Geschmack einzeln zu erfassen.
Ein paar Minuten lang zählte nichts – nur dieses Brot, das ich in England nirgends bekommen hatte.
Klar, auch dort hatte ich karibische Restaurants ausprobiert – in Brixton, in Peckham, in einem winzigen Takeaway an der Holloway Road.
Ich hatte Jerk Chicken gegessen, Doubles, frittierten Fisch, weiches Bake – alles dabei.
Aber nichts davon schmeckte wie hier. Nicht so warm. Nicht so echt.
Und trotzdem hatte ich mir in London eine kleine Stammbar gesucht, gleich hinterm College.
Dunkle Ecken, klebrige Tische, kaltes Red Stripe. Der Koch kam aus Saint Lucia, der Barkeeper aus Antigua.
Wenn ich ein bisschen Heimweh hatte, ging ich dorthin.
Wir redeten über Zuhause. Über die Hitze, das Meer, die Politik und unsere Leute.
Ich nannte es meine kleine Zufluchtsinsel.

Die Straße war staubig, mit leichtem Gefälle. Zuckerrohr wuchs rechts und links, in ungleichmäßigen Reihen, vereinzelt standen kleine Häuser – aus Holz, Blech oder beidem.
Kinder spielten mit einem halbaufgepumpten Ball am Straßenrand.
Zwei Ziegen trotteten quer über die Fahrbahn. Ein Besitzer war weit und breit nicht zu sehen.
Ein LKW hupte mir entgegen, auf dessen Ladefläche mehrere Männer saßen – einer spielte auf einem rostigen Blecheimer im Rhythmus einer Melodie, die nur er hörte.

Ich fuhr durch den Kreisel beim Flughafen Richtung Innenstadt, weiter bis kurz vor das Vereinsgelände gegenüber vom Independence Square, und parkte unter einem schiefen Baum am Rand.
Dann griff ich zur letzten Hälfte meines zweiten Sandwiches und verspeiste es genüsslich. Ich ließ mir Zeit. Kein Grund für englische Hektik – auch das gehörte hier zum Lebensgefühl.


Independence Square



Ein Tourist hatte mich mal gefragt, wann der Bus komme, der ihn in die nächste Stadt bringen sollte. Laut Plan hätte er längst da sein müssen.
Ich hatte gegrinst und gesagt: „Er kommt, wenn er kommt.“
Der Mann dachte erst, ich wolle ihn veräppeln – bis ich ihm erklärte, dass es zwar Pläne gab, man aber nicht davon ausgehen sollte, dass diese auch eingehalten wurden.
Vielleicht war der Fahrer zum Mittagessen eingeladen worden. Vielleicht hatte er auch einfach einen Platten.
Der Mann fiel fast vom Glauben ab – war es in Europa doch üblich, dass das, was auf dem Plan stand, auch funktionierte.
Vielleicht mit Ausnahme der Deutschen Bahn.

Erst als ich fertig war, griff ich ins Handschuhfach. Zwischen alten Quittungen, einem Schraubenzieher und Sonnenbrillen fand ich, was ich suchte: Zigaretten.
Ich zündete eine an, zog tief und schaute dem Rauch nach, wie er vom Wind weggetragen wurde.
Für einen kurzen Moment war ich rundum zufrieden. Ausgeschlafen, gesättigt – und zuhause.
Nur der Rauch, die Hitze, das leise Brummen von Insekten.
Ich warf den Rest Alufolie in den Fußraum, schulterte meinen Rucksack und stieg aus.

Der Parkplatz vor dem Stadion war fast leer. Ein paar Fahrräder, ein Moped, ein rostiger Pickup.
Ich streckte mich kurz und ließ den Blick über das Gelände schweifen.

Das Vereinsgelände wirkte kleiner als in meiner Erinnerung – oder ich war einfach gewachsen.
Das Gras war von der Sonne braun gebrannt und teilweise trotzdem zu lang.
Die Kreidelinien waren blass und unsauber gezogen, auch die Tornetze waren ausgefranst – an einer Stelle fehlte sogar ein großer Teil.

Auf einer Seite grenzte der Platz fast direkt ans benachbarte Cricketfeld, auf der anderen stand die einzige „richtige“ Tribüne.
Die Farbe der türkisen Sitzschalen blätterte bereits ab. Man sah ihr an, dass sie viel erlebt hatte – Regen, Sonne, unzählige Hintern.
Dafür hatte die kleine Überdachung immerhin keine Löcher.

Daneben: eine zweite Tribüne. Etwas kleiner, ohne Dach. Sie musste neu sein – bei meinem letzten Besuch war sie noch nicht da.
Und doch passte sie sich jetzt schon an: verwittert, windschief, ein Teil des Ganzen.

Glanz? Fehlanzeige. Aber das Herz war da. Immer noch.
Ich nahm noch einen letzten Zug, drückte die Zigarette im Sand aus und machte mich auf den Weg zum Platz.




Warner Park Tribünen



Mr. Bradshaw saß schon auf einer der blauen Trainerbänke vor der Tribüne.
Ich erkannte ihn sofort an seinem Umriss – breit, ruhig, die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
Er hatte gewusst, dass ich kommen würde – er kannte mich schließlich schon über ein Jahrzehnt.
Ich hob den Arm zum Gruß.
Obwohl er es ahnte, sah man ihm eine gewisse Erleichterung an. Vielleicht freute er sich sogar ein wenig.

Wir begrüßten uns per Handschlag und wechselten ein paar Worte.
Ich fragte ihn, warum keiner der Spieler trainierte, und er meinte, er hätte erst einmal dafür sorgen müssen, das die Spieler überhaupt alle auftauchten.
Beim ehemaligen Trainer sei das „Training“ wohl zur freiwilligen Sache geworden.
Ich atmete schwer. Das konnte ja heiter werden.

Dann sah ich, wie zwei Kinderwagen um die Ecke bogen – und dahinter erkannte ich sie als Anschieberin: Rosalie.
Ein Baby auf dem Arm, zwei Kinder im Doppelwagen. Sie kam langsam näher und lächelte. Still. Kein Flirt, keine Romantik. Nur Wärme.
Wir umarmten uns kurz, und ich konnte mir nicht verkneifen zu sagen:
„Ich wusste gar nicht, dass das alles deine sind. Du warst ja ganz schön fleißig, während ich weg war.“
Wir mussten beide lachen. Es war ein gutes Lachen. Ein echtes.

Kurz darauf sah ich, wie ein relativ kleiner, aber drahtiger Mann aus dem Kabinengang kam – Jogginganzug, breite Brust, selbstbewusster Gang.
Ohne zu zögern ging er auf Rosalie zu, stellte sich neben sie und legte ein wenig besitzergreifend den Arm um sie.

Ich erkannte ihn sofort.

Mervin Lewis. Ein Terrier-Typ. Schon in der Schule ist er so gewesen – wurde meist als Erster in die Mannschaften gewählt.
Keiner wollte den kleinen Wadenbeißer als Gegner.
Eigentlich hatte ich mich immer gut mit ihm verstanden. Damals war er aber auch noch nicht mit Rosalie liiert.
Heute war er Kapitän der Rockets. Das Herz des Teams. Letzte Saison war er lange verletzt – vielleicht auch ein Grund für den Abstieg.
Aber jetzt schien er wieder fit und voller Elan zu sein.

Er sah mich etwas fragend an, als würde er nicht sofort erkennen, wer vor ihm stand.
Dann blickte er von mir zu Rosalie – und dann wieder zu mir. Eine Ewigkeit schien zu vergehen.
Da dämmerte es ihm: der Kindheitsfreund seiner Frau. Und ein Niemand im Trainergeschäft – wie er kurze Zeit später noch erfahren sollte.

„Wha gwan, Kalkleiste?“ sagte er in Kittian Creole, der Sprache der Einheimischen.
Es bedeutete so viel wie: Was geht ab?
„Kalkleiste“ bezog sich natürlich auf meine – im Gegensatz zu allen anderen Anwesenden – kränklich blasse Hautfarbe.
So hatten sie mich früher genannt. Die, die glaubten, sie wären witzig.
Haften geblieben war er nie, aber wenn jemand sticheln wollte, kam der Spruch.

Ich schaute ihn durchdringlich an. Dann antwortete ich in etwas eingerostetem Kittian Creole:
„Gud maanin. Ow yuh do, Meeeerwin?“ (Guten Morgen. Wie geht’s dir, Merwin?)
Ich wusste, dass er seinen Vornamen hasste. Alle nannten ihn Lewis.
Aber wenn er mir den Spruch drückt, dann spiele ich eben die Karte zurück.

Er schaute mich überrascht an, dann huschte ein Grinsen über sein Gesicht.
Nicht viele wagten es, ihn so zu nennen – schon gar nicht vor anderen.
Trotzdem wirkte er nicht verärgert, sondern eher beeindruckt von der Retourkutsche.

„Come yah, ma bredda“, (Komm her mein Bruder) sagte er und streckte den Arm zum Einschlagen aus.
Ich lachte, schlug ein, und wir checkten Schulter an Schulter.

„Mi na undastan. Wey yuh come yah?“ (Er verstand nicht woher ich so plötzlich gekommen war)
„Mi live by mi Mama’s house. Mi come by di plane.“(Ich versuchte ihm zu erklären das ich bei meiner Mutter wohnte und mit dem Flugzeug gekommen war)
Er grinste. „Dein Kittian ist auch nicht mehr das Beste.“ erlöste er mich endlich.

Mr. Bradshaw und Rosalie, die das Treiben natürlich aufmerksam beobachtet hatten, konnten sich das Lachen kaum verkneifen.
„Ich hatte lange keine Gelegenheit mehr, es zu sprechen“, versuchte ich mich rauszureden.

„Was machst du denn hier? Alte Bekannte besuchen?“, fragte er und schaute dabei Rosalie an – die aber still blieb.

„Dein Schwiegervater hat mich gebeten, mich hier mal umzusehen.“, erwiderte ich knapp und schaute zu Mr. Bradshaw.

Mervin runzelte die Stirn und schaute ebenfalls zu Bradshaw.

„Er war in England, hat studiert. Außerdem war er schon früher allen einen Schritt voraus – wie du bestimmt noch weißt.
Ich glaube, es wäre gut für euch Jungs, mal wieder jemanden Kompetentes von hier vor euch zu haben.“


Mervin sagte nichts. Aber man sah, wie es in ihm arbeitete.
Dann schaute er mich an. „Du bist also kompetent“, sagte er eher wie eine Feststellung als eine Frage.

Ich hatte eigentlich gedacht, sofort auf Gegenwind zu stoßen, und mich innerlich schon auf eine Diskussion mit der kompletten Meute eingestellt.

„Das will ich doch meinen. Oder etwa nicht, Johnathan?“, riss mich Mr. Bradshaw aus meinen Gedanken.

„Klar, ich bin der Beste auf meinem Gebiet“, sagte ich – wenig überzeugt klingend.

„Na, schlechter als unser vorheriger Coach kannst du nicht sein – denn das ist gar nicht möglich“, lachte Mervin.

„Komm, ich will dir mal die Mannschaft vorstellen“, sagte Mr. Bradshaw und setzte sich Richtung Kabine in Bewegung.

„Na dann wollen wir mal“, dachte ich mir – und stapfte hinterher.


Mervin Lewis - Kapitän und Starspieler
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