Prolog 1.1
Landeanflug auf BasseterreDie Propeller kamen
klackernd zum Stillstand, während sich die Kabinentür des kleinen Flugzeugs langsam öffnete.
Keine Gangway, kein Tunnel – stattdessen eine
klapprige Metalltreppe direkt aufs Rollfeld.
Ich trat aus dem Flieger und wurde sofort von einem Schwall
heißer Luft empfangen –
salzig, feucht, schwer.
Die Klimaanlage im Flieger hatte mich träge gemacht, meine Klamotten
klebten an der Haut, und mein Hirn hinkte mir zwei Schritte hinterher.
Die Sonne
brannte, als hätte sie vergessen, dass es Dezember war.
Normalerweise ist das die beste Zeit des Jahres –
Trockenzeit in der Karibik.
Tagsüber klettert das Thermometer regelmäßig auf 27 Grad, nachts sinkt es kaum unter 22. Der Himmel:
wolkenlos. Das Meer:
warm wie eine Badewanne.
Und Regen? Gab’s höchstens als Gerücht. Der Dezember auf St. Kitts war eine klimatische Urlaubspostkarte – aber für mich war es Heimat.
Heute jedoch war selbst mir ungewöhnlich warm – vielleicht lag es am Wetterwechsel oder daran, dass ich es einfach nicht mehr gewohnt war.
Eigentlich mochte ich die Hitze. Schon immer.
Sie gehörte zu mir wie das
Salz in der Luft oder das Kratzen von Sand unter den Fußsohlen.
Während andere stöhnten und nach Schatten suchten, atmete ich auf – und stellte fest, dass ich meine eine Softshelljacke noch anhatte.
Sie war weich, grau, winddicht – britisches Understatement in Textilform. Ich streifte sie hastig ab und schulterte mein Handgepäck.
Der heiße Asphalt
glänzte, während ich über das Rollfeld Richtung Terminal schlenderte.
Ein Mitarbeiter in gelber Weste schob wortlos einen Gepäckwagen an mir vorbei. Ich nickte ihm zu und steckte ihm ein paar Dollarnoten in die Hand.
Sein junges, wenn auch bereits gezeichnetes Gesicht hellte sich auf.
Auch wenn die offizielle Währung der
Ostkaribische Dollar war, wurde der amerikanische trotzdem lieber gesehen.
Er lächelte – eine Reihe
schneeweißer Zähne mit ein paar Lücken blitzte auf.
Der Luftdruck fühlte sich schwer an – wie ein
feuchter, warmer Mantel.Aus dem nahen Gebüsch
zirpten die Zikaden,
laut und unermüdlich, als hätten sie nie aufgehört seit meinem letzten Besuch.
Dieses Geräusch war für mich das akustische Gegenstück zum tropischen Licht –
grell, lebendig, unausweichlich.
Willkommen zu Hause.
Der Flughafen von Basseterre – benannt nach Rosalies Urgroßvater, wie ich vor vielen Jahren erfahren hatte – war, sagen wir mal: übersichtlich.
Keine riesigen Werbebildschirme, keine Luxusshops, keine Anzugträger auf Rollkoffern. Nur ein flaches Gebäude, ein paar Palmen und ein rostiger Zaun am Ende des Rollfelds.
Robert L. Bradshaw International AirportIch trat durch die offensichtlich
defekten Schiebetüren, die dauerhaft offen standen – vermutlich, weil niemand mehr Lust hatte, sie reparieren zu lassen.
Drinnen war es noch
wärmer und
stickiger als draußen.
Ich stellte mich ans Gepäckband, das mit bedächtig
klappernden Metallstreben in gefühlter
Zeitlupe Koffer um Koffer herausrückte.
Das Gummikarussell
quietschte bei jeder Umdrehung – als wollte es sich für jahrelange Vernachlässigung beschweren.
Natürlich kam mein Koffer als Letzter.
Draußen stand ein
halb verrosteter, roter
Toyota-Pick-up mit einem kaputten Rücklicht in der Sonne. Auch er war eher
Arbeitstier als
Schönheitskönigin.
Daneben: meine Mutter.
Barfuß. In einem blumigen Leinenkleid.
Sie winkte, als hätte sie mich gestern erst gesehen. Ich musste grinsen.
Schönheitskönigin?„Johnathan!“, rief sie.
„Willkommen daheim, mein Schatz!“Sie grinste ebenfalls und schloss mich in ihre Arme.
„Lass dich mal ansehen… Du musst essen, mein Junge, sonst fällst du noch vom Fleisch“, sagte sie – wie auch bei den letzten drei Malen.
Und doch hatte ich jedes Jahr ein paar Kilo draufgepackt.
Ich warf den Koffer auf die Ladefläche, stieg ein und ließ mich in den
heißen Sitz sinken der mir fast den Hintern
verbrannte.
Der Geruch nach Kokosnussöl und alter Polsterung stieg mir in die Nase.
Das Auto war noch dasselbe wie damals.
Der rote Lack blätterte ab wie bei einem schlecht lackierten Modellauto, die Beifahrertür
quietschte wie eine beleidigte Gans, und der Anlasser hatte diese typische
T-Zündung, bei der man nie wusste, ob man gleich losfährt oder gleich
explodiert.
„Du siehst blass aus“, sagte sie und startete den Motor.
„England“, antwortete ich.
„Dort ist Wärme ein Gerücht.“„Du fährst das Ding immer noch?“„Der fährt besser als du denkst.“Röhr–röhr–klack–klack...
„Aha.“Sie lachte – und ich wusste: Ich war wirklich zurück.
Die Straße vom Flughafen war wie immer voller
Schlaglöcher, und der Pick-up
holperte über den Asphalt, als wolle Mutter testen, ob er noch offroad-tauglich war.
Die Fenster waren offen. Der Fahrtwind roch nach
Meer, Auspuff, Zuckerrohr – und natürlich irgendetwas
Gebratenem.
„Du bleibst diesmal ein bisschen länger, ja?“„Kommt drauf an.“„Worauf?“Ich sah sie an.
„Worauf du diesmal hinauswillst.“Sie sagte nichts. Aber ich sah, wie sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen stahl.
Die Reifen
surrten über den warmen Asphalt, Palmen
rauschten am Rand vorbei und im Radio lief
Cayon Caribbean FM.
Ein
heiserer Moderator nuschelte irgendetwas in
Patois, dann setzte ein steelpan-getränkter
Reggae-Beat ein – rhythmisch, weich, ein bisschen zu laut.
Das alte Blech
vibrierte mit jedem Takt, als wäre das Auto selbst der Bassverstärker.
Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen für einen Moment.
„Du siehst ja ganz hungrig aus“, sagte sie grinsend.
„Bin ich auch.“„Tja. Ich koch heut nix.“Ich riss die Augen wieder auf.
„Was?! Ich hab seit zwei Tagen nichts Richtiges gegessen.“„Dann wird’s Zeit, dass du mal wieder was Gescheites bekommst. Wir essen bei den Bradshaws.“Ich stöhnte. Laut.
„Jetzt? Ich hatte im Flugzeug einen Apfel, der nach Seife schmeckte, und einen Müsliriegel, der so trocken war, dass ich erst dachte, der wäre aus dem letzten Jahrhundert.“„Dann freu dich. Bei Rosalie gibt’s bestimmt was Warmes.“„Rosalie?“Sie antwortete nicht. Stattdessen bog sie in die alte Seitenstraße ein, wo die Telegrafenmasten
schief standen und jedes zweite Haus neue Farbe nötig hatte.
Ich erkannte fast jedes davon – als wäre ich nur ein paar Wochen fort gewesen.
Die Sonne stand tief, das Licht wurde
goldener. Zikaden
zirpten wieder um die Wette.
Als wir ums Eck bogen, sah ich das
Bradshaw-Haus.
Noch immer dieses auffällige Türkis. Noch immer dieselbe
hölzerne Veranda mit dem durchhängenden Moskitonetz und der
klapprigen Hollywoodschaukel.
Und auf der Veranda stand sie.
Sichtlich gealtert, in einem fleckenübersäten weißen T-Shirt und einem blau gemusterten Rock –
und doch
hübsch wie eh und je: Rosalie. Ihre
schokobraune Haut glänzte leicht in der Abendsonne. Die
dichten Locken hatte sie zurückgebunden, einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht.
Barfuß, einen Lappen in der einen Hand – der wohl gerade noch ein Fenster bearbeitet hatte – und auf dem anderen Arm ein
Baby, das gerade ziemlich erfolglos versuchte, aus einer halb durchsichtigen, grünen Nuckelflasche das begehrte Innere herauszunuckeln.
Neue Flecken bildeten sich auf ihrem T-Shirt, doch dafür hatte sie in diesem Moment keinen Blick.
Sie hielt inne, sah das Auto, und ihr Blick blieb an mir hängen.
Ich schluckte.
Zehn Jahre.
Zehn Jahre waren verdammt lange für ein einfaches „Hallo“.
„Na du“, sagte sie.
Ihre Stimme klang nicht anders als früher – ein wenig
rauer, ein wenig zu
laut, und trotzdem voller
Wärme. Als hätte sie auf mich gewartet. Nicht heute. Immer.
„Hey“, brachte ich heraus, und meine Stimme war plötzlich zehn Jahre jünger. Ich fühlte mich auch so.
Ich trat auf die Veranda. Der Holzbohlenboden
knarzte unter meinen Füßen. Ich roch
Seife, Zimt – und etwas, das nach Kind roch:
milchig, warm, chaotisch.
Rosalie musterte mich einen Moment lang. In ihren Augen lag eine Mischung aus
Überraschung, Müdigkeit – und ein winziger Rest von dem, was früher einmal zwischen uns gewesen war.
Im Wohnzimmer lief ein Ventilator, der mit jedem Umdrehen
klackerte wie ein alter Projektor. Die Vorhänge bewegten sich im Luftzug, der nicht ausreichte, um die Hitze aus dem Raum zu vertreiben.
Dort saß
Mr. Bradshaw.
„Johnathan“, sagte er knapp, aber nicht unfreundlich. Die Stimme
rauer als früher, das Haar
grauer, der Blick aber noch immer
scharf wie Machetenstahl.
„Timothy“, nickte ich zurück.
Ich trat ein. Ich wusste inzwischen: Er war nicht
nur Rosalies Vater.
Sein eigener,
politisch einflussreicher Vater hatte ihn damals –
kurz vor seinem Tod – als Präsident der
Cayon Rockets installiert, um den Verein vor der
Insolvenz zu bewahren.
Jenen kleinen, ehrgeizigen Klub, den ich früher als Junge mit
pochendem Herzen vom
staubigen Hügel aus verfolgt hatte. Immer mit
schmutzigen Knien,
verschwitztem Shirt und einer Tüte
Tamarindenbonbons in der Hand.
Wir aßen zusammen auf der Veranda. Der Tisch war aus hellem Holz,
wackelig, aber voller Farben. In einer matten Schüssel dampfte ein
scharfer Huhn-Eintopf – so würzig, dass meine Lippen bereits vor dem ersten Bissen leicht zu
kribbeln begannen.
Dazu Süßkartoffeln,
gegrillt und mit Limettenschale bestreut. Und ein Salat mit Mango, roten Zwiebeln und irgendetwas Undefinierbarem, das so
scharf und
süß zugleich war, dass mir beinahe die Tränen kamen. Nicht wegen der Zwiebeln.
Wir redeten über
London. Über das Wetter. Über Flugverspätungen.
Rosalie ließ das Baby bei ihrer kleinen Schwester – die, wie ich jetzt erst bemerkte, im Nebenzimmer saß und zwei identisch aussehende Babys in den Schlaf wiegte – und brachte stattdessen frischen Eistee. Es war eine dieser Mahlzeiten, bei denen alle wussten, dass noch etwas kommen würde – aber niemand den Anfang machen wollte.
Dann, irgendwann, lehnte sich Mr. Bradshaw zurück und ließ seinen Nacken von einer zur anderen Schulter kreisen. Es
knackte ungesund. Seine Ellenbogen ruhten auf dem Tisch, seine Stimme wurde
tiefer.
„Du hast bestimmt mitbekommen, dass wir abgestiegen sind.“Er sagte es, als sei es ein persönlicher
Verrat – nicht nur ein sportliches Versagen.
Ich runzelte die Stirn.
„Was? Abgestiegen?“„Ich dachte, du hättest dich mal informiert.“„Ich dachte, du hättest mir sowas gesagt“, entgegnete ich entrüstet.
„Ich musste arbeiten“, erwiderte sie, verdrehte leicht die Augen und schüttelte nur unmerklich den Kopf.
Timothy schob seinen Teller zur Seite.
„Deine Mutter hat erzählt, was du in England gemacht hast. Studium, Praktika bei gar nicht so unbekannten Vereinen – aber keine Festanstellung.“Er sah mir direkt in die Augen.
„Und ich erinnere mich noch genau, wie du früher auf dem Hügel saßt, um einen besseren Blick auf das ganze Spielfeld zu bekommen.
Man muss auch mal aus einem anderen Blickwinkel schauen‘ – hast du schon als kleiner Knirps gesagt.“„Ich war sechzehn“, warf ich ein.
„Du hast nicht einfach nur geguckt – du hast gelesen. Spielverläufe, Schwächen, Muster.“„Der letzte Trainer hat gedacht, er wär hier im verdammten Ferienlager.
Hat einmal die Woche ein Lauftraining angesetzt und Motivationssprüche vom Band geleiert, die kein Mensch ernst genommen hat – statt die Spieler wie Vollprofis zu behandeln.
Keine Gegneranalyse, keine Videoauswertung, keine GPS-Westen. Und wenn einer mal gefragt hat, ob wir auch mal mit dem Ball trainieren, wurde er ignoriert oder gleich auf die Bank gesetzt.“Vollprofis und GPS-Westen in einem semi-professionellen Verein – ja, ne, ist klar, dachte ich. Sagte aber nichts.
Er nahm einen tiefen Schluck Wasser und fuhr mit erhobener Stimme fort:
„Und dann dieses Rumgeeiere vor der Presse! Als ob wir hier am Tabellenende rumdümpeln wollen. Ich hab ihn gefragt, wo zur Hölle er glaubt, dass wir hier sind – da sagt der: ‚Das ist nicht meine Baustelle, nicht meine Insel.‘
Nicht seine Baustelle, wer bezahlt ihn denn bitteschön?!
Die letzten Jahre waren wir konstant dritte oder vierte Kraft im Land – hinter St. Paul’s United, St. Peter’s FC und den Village Superstars.
Und jetzt kommt so ein Neffe vom Sportdirektor und meint, ihm hätte vor der Saison niemand gesagt, dass wir überhaupt sportliche Ziele hätten!“


Ich dachte: Eigentlich alles wie immer. Nur hat es diesmal hatte der Trainer wohl gar keine Ahnung und es hat nicht mehr gereicht nur so zu tun als ob.
Irgendwann fällt der ganze Müll eben auf. Laut sagte ich nichts.
Timothy lehnte sich vor, Ellbogen auf den Tisch, die Stirn voller Falten.
„Versteh mich nicht falsch – dass er der Neffe vom Sportdirektor war, wusste ich. So läuft das hier eben. Aber ich dachte, er hätte Ahnung. Zumindest hatten sie’s mir so verkauft.
Vielleicht hab ich die Zügel etwas schleifen lassen. Aber das ist jetzt vorbei.“Er
dampfte förmlich vor Wut, beruhigte sich dann aber ein wenig und fuhr
bestimmt fort.
„Ich greife wieder selbst ins Geschäft ein. Der Trainer hatte keinen Draht zur Mannschaft, keinen Draht zur Insel, keinen Respekt vor dem, was wir hier aufgebaut haben.
Es geht nicht nur um Fußball. Es geht darum, unser Dorf in einem besseren Licht zu zeigen und die Hauptstadtklubs ärgern.
Darum, was du den Jungs mitgibst, wenn sie vom Platz gehen. Wie du sie besser machst. Wie du ihnen das Gefühl gibst, dass sie für etwas spielen, das größer ist als sie selbst.“
Stille.„Du hast das mal verstanden. Auch wenn du damals noch ein kleiner Hosenscheißer warst mit mehr Sonnenbrand als Ahnung – du hast verstanden, was hier zählt.“Jetzt ging er zu weit, dachte ich. Aber ich traute mich nicht, ihm ein weiteres Mal ins Wort zu fallen.
Ich sah zu Rosalie. Sie schaute weg.
Mr. Bradshaw trank sein Glas in einem Zug leer. Diesmal war es jedoch kein Wasser, sondern
Selbstgebrannter den er sich kurz zuvor aus einer nicht etikettierten Flasche eingegossen hatte.
Er verzog keine Miene und stellte das Glas mit einem
dumpfen Klang auf den Tisch. Er hatte sofort wieder meine volle Aufmerksamkeit.
„Wir haben den Trainer entlassen. Und den Sportdirektor gleich dazu. Die Jungs brauchen Struktur, neue Inspiration – und jemanden, der die Gepflogenheiten hier kennt. Und es ernst meint.
Ich glaube, du hast das im Blut.“Ich hatte das Gefühl, dass sich alle Augen auf mich richteten. Ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte.
Dann sagte er es.
„Ich will, dass du den Verein übernimmst.“Ich lachte. Kurz. Ein bisschen zu
laut. Es klang falsch.
„Du meinst das ernst?“Er nickte. Langsam. Die Stirn leicht
gerunzelt – wie jemand, der seine Entscheidung nicht verkaufen will, sondern einfach ausspricht, wie sie ist.
„Wir brauchen frischen Wind. Und du gehörst hierher. Du kommst von hier.“Ich drehte den Kopf zu meiner Mutter. Sie sagte nichts. Aber sie sah mich an, wie nur Mütter einen ansehen können, wenn sie hoffen, dass man das Richtige tut.
„Ich… ich muss eine Nacht drüber schlafen“, sagte ich – ein wenig überfordert.
Keiner widersprach. Doch Mr. Bradshaw wirkte leicht
verärgert. Schließlich bekam man nicht jeden Tag das Angebot, Trainer seines Heimatvereins zu werden – schon gar nicht als Neuling.
Der Ventilator
klackerte weiter. Für einen Moment war es vollkommen still. Draußen
zirpten die Zikaden.
„Na, dann wollen wir mal“, durchbrach meine Mutter die peinliche Stille.
Alle standen gleichzeitig auf – wie zum Appell.
„Danke für das tolle Essen“, sagte ich.
„Schön, euch mal wieder gesehen zu haben.“Ich blickte erst zu Rosalie, dann zu Mr. Bradshaw.
An der Tür umarmte ich Rosalie ein letztes Mal. Sie roch nach
Vanille – wie ihre Mutter damals.
Sie fehlte uns allen.
Auf dem Heimweg sprachen wir kaum. Ich hielt meine Hand aus dem offenen Fenster und fing damit die
Abendluft ein.
Es war angenehm
abgekühlt. Und ich war
hundemüde.
Überrascht, verwirrt, ein wenig
geschockt – aber hauptsächlich
müde.
„Wir sind da“, sagte meine Mutter, als sie in die Einfahrt einbog und mich aus meinem kurzen Halbschlaf weckte.
Der Kies
knirschte unter den Reifen, das Haus lag still in der Dämmerung.
Eine Lampe über der Tür
summte leise und lockte ein Dutzend Motten an.
Sie schlug die Fahrertür etwas
unsanft zu, und ich zuckte zusammen – wie aus einem Traum gerissen.
Ich stieg aus, nahm meinen Koffer aus dem Wagen und schleppte ihn mit letzter Kraft ins Haus.
Drinnen war es
dunkel. Keiner von uns machte das Licht an –
„Um kein Viehzeug anzulocken“, wie Mutter immer sagte.
Ich brauchte auch keins. Alles war noch an seinem Platz. Genau wie beim letzten Mal.
Den Koffer ließ ich im Flur stehen. Ich taperte ins Schlafzimmer und fiel einfach auf die Matratze – noch
angezogen, verschwitzt, der Kopf
brummte.Ich hatte es nur noch geschafft die Schuhe auszuziehen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war mein Zimmer schon
taghell. Für einen Moment dachte ich, ich hätte bis mittags geschlafen – die Luft roch schon wieder nach
Hitze.
Ich spritzte mir am Waschbecken etwas Wasser ins Gesicht, machte mich notdürftig frisch und trottete in die Küche.
Dort stand der erste Kaffee des Tages – viel Milch, viel Zucker. Wie immer.
Nice and Sweet. Diese Gewohnheit hatte ich selbst in England nie abgelegt.
Und trotzdem waren meine
Blutzuckerwerte in Ordnung, zum Unverständnis des testenden Arztes.
„Zigaretten“, murmelte ich. Wo waren meine
Zigaretten?
Ich hatte seit dem Aussteigen aus dem Flugzeug keine mehr geraucht dämmerte es mir plötzlich. Jetzt machte sich das deutlich bemerkbar – ich war
nervös, fahrig, innerlich unruhig.
„Meine zweite, noch ungesündere Gewohnheit – die alten Sargnägel – hatte ich bisher auch nicht ablegen können. Ehrlich gesagt hatte ich es auch noch nie wirklich versucht.“
„Gut geschlafen?“, fragte meine Mutter, während sie eine Schüssel mit geschnittenen
Papayas auf den Tisch stellte.
Ich nickte nur und betrachtete meine Haare in der Spiegelung des Fensters. Ich sah aus, als hätte mich ein
tropischer Sturm getroffen – oder als hätte ich mit dem Finger in der Steckdose geschlafen.
„Und? Sag jetzt nichts Falsches. Timothy ist schon ganz nervös“, sagte sie mit einem Lächeln, das mehr verriet, als es sollte. Sie versuchte, es
beiläufig klingen zu lassen – aber ich hörte die stille Hoffnung in ihrer Stimme.
Ich zuckte mit den Schultern.
Ich konnte es selbst kaum glauben, was da gestern passiert war. Ich – Trainer? Dass ich nicht lache.
Aber wenn ich ehrlich bin: Genau das war doch eigentlich schon immer mein Ziel. Vielleicht nicht hier. Vielleicht nicht bei den
Rockets.
Aber dafür hatte ich England doch überhaupt erst auf mich genommen, dafür hab ich doch für einen Hungerlohn hospitiert, dafür hatte ich doch alles gelernt, was man wissen musste.
Vielleicht war genau
das der Punkt. Vielleicht musste ich zurück zu meinen Wurzeln und hinaus in die Welt zu kommen, vielleicht würde sich hier eine Karriere ergeben, vielleicht müsste ich einfach nur die Gelegenheit ergreifen.
„Ich fahr erstmal zum Trainingsgelände. Vielleicht ist ja noch jemand da, den ich kenne“, sagte ich schließlich.
Ich nahm einen Schluck vom Kaffee, stellte die Tasse ab und warf einen Blick auf die Uhr.
9:45 Uhr. Wenn sie heute trainierten, musste ich mich sputen.
„Na dann sieh zu, dass du noch rechtzeitig hinkommst, sonst sind sie schon fertig, wenn du auftauchst“, rief meine Mutter hinter mir her.
„Und iss was, mein Junge – sonst fällst du mir noch vom Fleisch. Ich mach dir schnell was zum Mitnehmen, während du dich fertig machst.“Ein Grinsen huschte über mein Gesicht.
Klasse. Erster Urlaubstag – und schon wieder im
Stress.
Ich sprang unter die Dusche, schnappte mir mein Zeug, gab meiner Mutter einen Kuss auf die Wange und und ließ nur noch eine
Staubwolke zurück.
Ich hatte keine Ahnung, dass ich in einer Stunde nicht nur alten Bekannten wiedersehen würde – sondern auch vor einer Entscheidung stand, die
alles verändern könnte.