So liebe Leser,
Danke für eure Geduld. Nach Urlaub, Krankheit und FM26 gehts hier jetzt weiter. Dafür gibts jetzt einen etwas längeren Beitrag für euch. Viel Spaß beim Lesen - ich freue mich wie immer über euer Feedback

Die versprochene kurze Erläuterung zur Storyline folgt vor dem nächsten Beitrag

Hin und wieder zurück - A Leipzig journey
Kapitel 3: Eine neue Heimat
Der Besuch von Kühne und Jerke hallte noch eine ganze Weile in meinen Gedanken nach. Als die beiden gegangen waren drängte sich neben der Aufregung auch die Erschöpfung wieder zurück in mein Bewusstsein. Dennoch war mein Kopf jetzt zu wach um direkt wieder schlafen zu gehen. Ich wollte mich gerade aufraffen, um Tom anzurufen, da klingelten Kühnes Worte in meinem Ohr noch einmal nach. „Höchste Diskretion.“ Und ich legte das Handy schnell wieder weg. Die zwei Tage würde ich die Angelegenheit für mich behalten müssen. So schwer mir das auch fallen mochte. Diese Chance durch Geschwätzigkeit zu gefährden, wäre an Dämlichkeit wohl kaum zu überbieten. Stattdessen fiel ich irgendwann, dank der beruhigenden Stimme des ZDF Nachrichtensprechers im TV, doch noch einmal ins Reich der Träume und nutzte, etwas erholter, am Abend die Chance, um mein doch recht eingestaubtes Wissen über den Leutzscher Verein nochmals aufzufrischen. Schließlich wollte ich beim Tag des offenen Stadions nicht wie ein kompletter Volltrottel rüberkommen. Von meinem westdeutschen Familienbackground einmal abgesehen.
Die Betriebssportgemeinschaft Chemie Leipzig stellte in der Stadt nach dem 1. FC Lokomotive Leipzig den größten Traditionsverein. Gleichwohl beide Klubs mittlerweile in der sportlichen Versenkung des Amateurbereiches verschwunden waren – polarisieren die Vereine bis heute, auch durch ihre intensive gegenseitige Rivalität. Diese ist vor allem historisch gewachsen und gleichzeitig auch Sinnbild für den Mythos Chemie Leipzig und für den Leipziger Fußball im Allgemeinen. Nach mehreren Umstrukturierungen trat die BSG damals in den 60er Jahren zu Zeiten der DDR als Underdog an in der höchsten Spielklasse an. Im damaligen System wollte man jedoch die besten Spieler der Stadt unter dem Banner des SC Leipzig (Vorgänger des 1. FC Lokomotive Leipzig) vereinen. Diejenigen welche übrig blieben, landeten bei der BSG…und schafften die Sensation.
1964 gelang zum zweiten und auch letzten Mal der Gewinn der DDR-Meisterschaft. Der Mythos der Mannschaft als „der Rest von Leipzig“ war geboren und sollte in der Vereinshistorie einmalig bleiben. Was in den Jahrzehnten danach folgte war eine Achterbahnfahrt aus sportlichen sowie wirtschaftlichen Misserfolgen und Comebacks - bis in die heutige Zeit hinein. Schon zu DDR-Zeiten rutschte die BSG immer mehr in den Schatten des 1. FC Lokomotive Leipzigs ab, welcher sich auch international auf der großen Bühne präsentierte und mit dem Finale des Europapokals der Pokalsieger gegen Ajax Amsterdam 1987 für den bisherigen sportlichen Leipziger Fußballhöhepunkt sorgte. Mal abgesehen von der ersten Deutschen Meisterschaft 1903. Chemie dagegen verschwand, auch bedingt durch das sportliche System der damaligen DDR, in den Versenkungen der 2. Liga.

Die anschließende Wendezeit überlebte die BSG in Ihrer Ursprungsform nicht. Nach der eintretenden Insolvenz 1990 wurde der Verein unter dem Namen des FC Sachsen Leipzig neu gegründet und die Hoffnung auf eine Wiederkehr glorreicher Zeiten flammte nochmal auf. Es blieb allerdings bei einem Versuch. Die folgenden Jahre waren weiterhin geprägt von sportlichen und finanziellen Schwierigkeiten. Der Gipfel der Probleme wurde in den Jahren vor 2011 erreicht, als der Verein mit einem Investor und einem damit einhergehenden Riesenetat versuchte zurück in den Profifußball zu drängen. Dazu zog man auch erstmals wieder aus dem Kunze Sportpark in das Leipziger Zentralstadion als Heimspielstätte.
Doch die Vision und damit der Aufstieg scheiterten, man rutschte immer mehr in unruhige finanzielle Fahrgewässer. Auch weil der Geldgeber letztlich entnervt absprang. Als auch ein möglicher Einstieg von Red Bull bei den Chemikern von der Fanbasis abgelehnt wurde ahnte man schon, dass der große Knall noch anstand. Separat zum FC Sachsen gründeten die Fans den alten Verein unter dem Namen der BSG Chemie Leipzig neu und traten in der niedrigsten Kreisklasse wieder zum Spielbetrieb an. Somit existierten fortan zwei Leutzscher Vereine, welche sich auch die Räumlichkeiten und das eigene Stadion teilten. Eine absurde Situation, welche vor allem aus dem Konflikt der Fanlager entstanden war. Während die Fanbasis der neugegründeten BSG eher im linken politischen Spektrum zu verorten war und vor allem aus der Ultragruppierung der Diablos bestand – galten die gebliebenen Anhänger des FC Sachsen eher dem rechten Lager als zugehörig. Ein Konfliktfeld welches sich eine ganze Weile halten sollte.
Am Ende gab es aber doch ein Happy End. Während der FC Sachsen abermals finanziell umkippte und sich nach erneuter Insolvenz in die SG Leipzig Leutzsch umbenannte, welche später ebenfalls Pleite ging, kämpfte sich die neu gegründete BSG von der niedrigsten Kreisklasse bis in die heutige Regionalliga Nordost nach oben. Getragen von Ihren Fans, welche unter anderem Hauptpositionen im Verein bekleideten. Zudem vereinte der Klub wieder alle Leutzscher Anhänger unter seinem Banner und gewann in den vergangenen Jahren immer mehr an Attraktivität. Das Belegen auch die Zuschauerzahlen, welche mit steigender Tendenz in Sachen Zuschauerschnitt nun bereits die 4.000er Marke knacken konnten. Eine Zahl die sich bei einer Kapazität von 4.999 Zuschauern im AKS durchaus sehen lassen kann. Diese kuriose Begrenzung hatte im übrigen finanzielle und sicherheitstechnische Hintergründe und waren auch durch Auflagen des Ordnungsamtes bedingt. Eigentlich gab auch der Sportpark eine höhere Kapazität von knapp 20.000 Zuschauern her. Eine Öffnung war bisher für den Verein aber nicht zu stemmen. Wirklich realistisch wäre das auch nur, wenn die BSG wieder in deutlich solidere finanzielle Fahrwasser käme. Denn wie auch bei der Lokschen in Probstheida war Geld in Leutzsch weiterhin ein knappes Gut.
Durch den Aufstieg der BSG in die Regionalliga im Jahr 2017 wurde auch die Rivalität mit dem 1. FC Lok Leipzig wieder ein größeres Thema da man fortan endlich wieder direkt gegeneinander antrat. Passend zur Historie war hier in der Vergangenheit meist Lok der Favorit und immer wieder kam es bei den Spielen zu Ausschreitungen oder massivem Einsatz von Pyrotechnik. Von Jagdszenen und Überfällen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Stadions ganz zu schweigen. Während sich ab 2009 über beide Klubs der Schatten des sportlich deutlich erfolgreicheren Projektes RB Leipzig legte, lebten Lok und die BSG weiterhin in ihrer traumwandlerischen Traditionswelt, welche mit der Realität jedoch nichts mehr zutun hatte. In der Hoffnung das eines Tages einer der beiden Vereine wieder den Sprung in den Profifußball schaffen würde. Ein paar Stunden recherchierte ich so, sah mir Dokus zur BSG bei YouTube an und schloss irgendwann mit brummendem Schädel meinen Laptop. Von draußen fiel das Mondlicht herein und die Müdigkeit machte sich wieder in mir breit. Zeit die Zuflucht der Laken zu suchen damit ich am nächsten Tag entsprechend fit war.

Es war ein wahres Musterbeispiel eines Sommertages. Keine Wolke verlor sich am Himmel und so war der Gang bis zur S-Bahn-Station noch deutlich angenehmer als unter der Woche, als es noch pausenlos geregnet hatte. Der Weg nach Leutzsch war nicht weit und doch lang genug, um die Gedanken etwas schweifen zu lassen. Es waren verrückte letzte zwei Wochen gewesen und ich hatte so das Gefühl, dass die Spannung noch nicht ganz abflachen würde. Selten war ich meinem Kindheitstraum näher als heute. Die Trainerleidenschaft hatte mich schon früh als Kind gepackt. Noch immer erinnere ich mich gut wie ich als 7-jähriger vor dem PC saß und stundenlang den Fussball Manager 2004 spielte. Wurde das Spiel zu turbulent stand ich auch schonmal im Zimmer und sprang voller Euphorie aufs Bett als mein Verein in der 92. Minute doch noch den entscheidenden Siegtreffer erzielte. Heute würde das Lattenrost solche Aktionen gewiss nicht mehr mitmachen. Mittlerweile saß ich nur noch selten vor dem virtuellen Rasen hatte nun aber die Gelegenheit, selbigen gegen echtes Grün einzutauschen. Je näher ich meinem Ziel kam, desto aufgeregter wurde ich – unwissend was mich erwartete. Es war bereits zwei Jahre her, dass ich das letzte Mal den Alfred-Kunze-Sportpark betreten hatte. Chemie gewann. Das war neben den hervorragenden Käse-Spätzle aber auch das Einzige, an das ich mich groß erinnern konnte.
Angekommen in Leutzsch zog es mich die Hauptstraße entlang, vorbei an der Schallmauer der S-Bahn, welche schon vollgesprayt war von alle möglichen Chemie Leipzig Graffitis und vorbei an alten verfallenen Gebäuden wie man sie ab und an noch in Leipzig sehen konnte. Vor ein paar Jahrzenten war das Leipzigs prägendes Stadtbild gewesen. Alte verfallene Gebäude die es dringend zu restaurieren galt. Vieles war von Krieg und Diktatur gezeichnet war. Der Einwohnerboom der letzten Jahre und die vielen Investitionen hatten solche Anblicke allerdings heute eher seltener gemacht. Schnell erspähte ich bereits erste grün-weiße Familien die offenkundig ebenfalls auf dem Weg in den AKS waren und gerade in die Häusersiedlung links von mir einbogen. Ich folgte, wissend was auf mich zukam. Es war schon ein besonderes Ambiente kurz vor den Stadiontoren durch eine kleine, schnuckelige Wohnsiedlung zu laufen. Kleine Reihenhäuser drängten sich aneinander und präsentierten grün bepflanzte Vorgärten, in welchen auch der ein oder andere grün Weiße Schal oder Wimpel zu sehen war. Hier hatte man noch einen besonderen Bezug zur BSG – an Spieltagen wurde auch der ein oder andere Pfandsack herausgehängt, in welchen die vorbeilaufenden Fans ihren Pfand unproblematisch loswerden konnten. Heute fehlten Selbige natürlich.
Langsam, aber sicher wurde auch die Straßen etwas voller und dann endlich sah man sie. Durch die Lücken zwischen den Häusern konnte man die Spitzen der Flutlichtmasten erkennen. Giganten aus Stahl, welche erst vor nicht allzu langer Zeit installiert, worden waren. Quasi der ganze Stolz des AKS – zumindest, wenn man den restlichen Zustand des Stadions betrachtete. Gleichzeitig war es für Chemie immens wichtig gewesen die Finanzierung und Anschaffung des Flutlichtes umzusetzen um eben auch Spiele in den Abendstunden zu ermöglichen. Damit waren auch die sehr kostenintensive Aktionen, wie z.B. das Leihen eines Flutlichtes aus Großbritannien, mittlerweile Vergangenheit.
Vor dem Eingangstor angekommen entdeckte ich schon den ersten Fanwagen, an welchem sich eine große Traube an Menschen gebildet hatte.
„Mama ich will den Schal!“ sagte ein selbst für sein Alter eher kleingeratener Junge zu seiner Mutter und deutete auf einen dunkelgrünen Schal, welcher keinen Schriftzug, sondern ausschließlich das Vereinslogo an beiden Enden aufgedruckt hatte.
„Das ist aber erstmal der Letzte! Du hast letzte Saison schon zwei bekommen.“ Antwortete die Mutter, was sich der Junge selbstverständlich nicht zwei Mal sagen ließ und dem Verkäufer schnell die 15 € seiner Gönnerin in die ausgestreckte Hand drückte. Ich ließ das erste leichte Treiben auf mich wirken. Es roch bereits hier nach Bratwurst und fettigen Pommes, aber auch ein leicht süßlicher Geruch, der bei Kindern ebenfalls beliebten Zuckerwatte lag in der Luft.

Drinnen herrschte buntes Treiben. Im Rücken der großen Haupttribüne hatten sich auf einem Schotterplatz allerlei Stände aufgereiht. Dazu gehörte unter anderem ein Grillstand, an dem Thüringer Würste und Steaks brutzelten, gleich daneben ein Fassbierwagen. Kinder liefen mit grünen und weißen Ballons herum, es gab eine kleine Torwand mit Preisen, ein Stand der Nachwuchsabteilung, an dem Jugendliche ihre Trikots signierten. Ich sah einen alten Bus, dessen Seiten aufgeschoben waren – dort verkaufte man verschiedenste Retro Fanartikel: Schals, Mützen sowie Trikots aus den 80ern. Ein paar Meter weiter warteten zwei junge Frauen mit Klemmbrettern und sammelten Unterschriften für ein Sozialprojekt des Vereins. Auch das war Teil der Identität der BSG.
Ich schlenderte weiter, hinauf zum Dammsitz, welcher den kleinen Sitzbereich unterhalb der überdachten Tribüne darstellte, und blieb irgendwann am Spielfeldrand stehen. Kinder kickten in kleinen Teams auf durch Linien abgegrenzten Kleinfeldern, ein Moderator am Mikro erzählte irgendwas über die Vereinsgeschichte, während hinter ihm ein Plakat mit der Aufschrift „Ein Verein, eine Familie“ im Wind flatterte.
Ich kaufte mir eine Limo – Alkohol war heute keine gute Idee – und stellte mich für einen Moment an den Rand der Tribüne. Der Blick über das Spielfeld, das leicht im Sonnenlicht glänzte, hatte etwas Friedliches. Überall im Stadion verteilt sah man einzelne Personengruppen, die das Geschehen auf dem Platz verfolgten, das Feeling genossen oder einfach nur in nette Plaudereien verwickelt waren. Mir gefielen das Publikum und die Atmosphäre auf dem Gelände. Eine gute Voraussetzung. Diese Mischung aus Bodenständigkeit, Leidenschaft und einer fast unkaputtbaren Treue. Hier sprach niemand von „Projekten“ oder „Marken“. Hier war Fußball noch Handwerk. Mittlerweile merkte ich auch wie die Anspannung langsam der Entspannung gewichen war.
Ich sah Kühne und Jerke am Rande des Rasens stehen. Beide waren in Gespräche verwickelt, schüttelten Hände, nickten, lachten. Ich wartete, bis sie frei waren, und ging schließlich langsam schlendernd zu ihnen herüber.
Jerke entdeckte mich zuerst.
„Herr Kopp! Schön, dass Sie da sind!“ rief er, fast etwas zu laut.
Kühne drehte sich um, lächelte knapp, auf diese ruhige, kontrollierte Art, die man nur von erfahrenen Vereinsmenschen kennt.
„Herr Kopp. Schön, dass Sie sich umgeschaut haben. Wie ist der erste Eindruck?“Ich sah mich kurz demostrativ um, deutete mit einer kleinen Geste über das Gelände.
„Echt. Bodenständig. Und irgendwie… warmherzig.“Kühne nickte.
„Genau das wollten wir. Kein Event für Sponsoren, sondern ein Tag für die Leute, die hier seit Jahrzehnten an der Bande stehen. Für die, die das hier tragen.“„Ich glaube das ist ganz gut gelungen.“ sagte ich lächelnd.
„Bei Fragen melden Sie sich gerne. Wir müssen leider jetzt zur Bühne rüber. Es gibt noch ein bisschen Programm.“ „Wir können dann gerne später reden!“ warf Jerke zwinkernd ein und so setzten sich die beiden inklusive Anhang in Bewegung.
„Schwer beschäftigt die beiden.“ dachte ich mir und schlenderte wieder aus dem Stadion heraus über das Vereinsgelände.
Hinter einer Biegung entdeckte ich einen nostalgisch anmutenden Pavillon mit alten Vereinsfotos. Schwarz-weiß, teilweise schon gut vergilbt. Spieler mit Koteletten, Trainer mit Zigaretten oder wahlweise Zigarren in der Hand und jubelnde Massen auf den Rängen. Ich blieb lange vor einem Bild stehen, das einen vollen Alfred-Kunze-Sportpark in den 80er Jahren zeigte. Neben mir stand ein älterer Herr mit Chemie-Schal.
„Siehste das da?“, sagte er und deutete auf ein Foto.
„1976. Dresden. Wir ham’ die geschlagen. Ich war da. Heute redet keiner mehr davon, aber das war’n Moment, Junge!“Ich nickte und konnte mir ein anerkennendes Lächeln nicht verkneifen.
„Klingt, als wär’s ein verdammt gutes Spiel gewesen.“„War’s. Und weißte warum?“, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten.
„Weil keiner an uns geglaubt hat. Genau deswegen.“ Der Tag ging schneller dahin als mir lieb war. Nachdem ich noch einige interessante Gespräche an den verschiedenen aufgebauten Ständen mit Chemie Mitarbeitenden und Fans geführt hatte, trugen mich meine Beine zur Haupttribüne, dem einzigen Bereich, der im AKS überdacht war. Ich nahm Platz und beobachtete in Gedanken versunken die letzten leidenschaftlich geführten 5vs5 Duelle des Tages. Eine Möglichkeit für mich kurz in Nostalgie zu verfallen und an die eigene Kindheit in den ländlichen Amateurklassen im Leipziger Umland zu schwelgen. Für mich war eine Fußballerkarriere nie eine Option gewesen. Zuviele linke Beine am Körper, gepaart mit einer grundsätzlichen Grobmotorik sind nicht die besten Voraussetzungen langfristig etwas im Fußballgeschäft zu reißen. Nur der Verstand, Einsatzfreude und das Spielverständnis – diese Stärken besaß ich schon immer. Etwas, was mir nun zugutekam.
Irgendwann leerte sich das Spielfeld vor mir und ich sah den Platzwart langsam die Eckfahnen einsammeln, während ein anderer Mitarbeiter die Kleinfeldtore vom satten Grün entfernte. Das rötlich orangene Licht der sommerlichen Abendsonne flutete den Sportpark und gab dem Ganzen eine mystische, aber zugleich freundliche sowie warmherzige Wirkung. Vom Platz hinter der Tribüne wehte der Geruch des groß angelegten Lagerfeuers herüber. Außer mir saß hier nun niemand mehr. Ich verlor das Gefühl für die Zeit und vergrub mich tief in meinen Gedanken. In meine Träume und die damit einhergehenden Zweifel. An Erinnerungen der Vergangenheit und Visionen für die Zukunft. Zumindest bis mich eine Stimme wieder aus meiner eigenen Fantasiewelt riss.
„Hat was oder?“Ich wendete den Kopf nach links und sah Hans Jerke, grinsend und von zwei kalten Bieren im Plastikbecher eskortiert vor mir stehen.
Ich nickte und konnte mir ein flüchtiges Lächeln nicht verkneifen. Jerke machte heute einen etwas anderen Eindruck als bei unserem ersten Treffen. Hatte er in meiner Wohnung noch etwas unsicher, verkniffen und überhastet gewirkt, war er heute die Lockerheit in Person. Ob es an der Umgebung lag oder daran, dass Kühne gerade nicht in seinem Dunstkreis war? Ich würde es vielleicht noch herausfinden.
„Ich habe mir mal erlaubt, das hier zu organisieren.“ Er hob demonstrativ die Becher und drückte mir einen in die Hand.
Jerke nahm neben mir Platz und wir stießen wortlos aber sichtlich zufrieden an. Nachdem wir die Blicke einige Momente über den Kuntze Sportpark gleiten ließen – übernahm er schließlich das Wort.
„Da ich denke, dass der Zeitpunkt jetzt passend ist und ich darin ohnehin nicht gut bin. Für mich wäre das du in Ordnung.“Das kam mir sehr gelegen. Ich gab ohnehin nie großen Wert auf das „Sie“. Von selbst bot ich das „Du“ allerdings selten an. Woran das genau lag konnte ich nicht einmal genau sagen.
„Das ist in Ordnung für mich.“ erwiderte ich mit einem Nicken, ehe er mir die Hand hinstreckte.
„Dann einfach nur Hans!“„Gerne!“ sagte ich und schlug ein.
„Also, wie ist das Gefühl?“ fragte er.
Ich nahm einen großen Schluck aus meinem Becher und genoss den kalten, süß bitteren Geschmack.
„Ich denke wir machen das.“ sagte ich nur und schob den nächsten Schluck nach. „
Ich muss zugeben, ich hatte noch meine Zweifel. In den letzten Wochen ist zu viel passiert. Mal hin, mal her, mal ja und mal nein. Vor ein paar Tagen hatte ich noch die Hoffnung Trainer bei Lok Leipzig zu werden und jetzt sitze ich hier im AKS und traue dem Braten in meinem tiefen Inneren immer noch nicht. Manchmal steht man sich doch selbst mehr im Weg als alles andere oder man fragt sich was hätte sein können. Gleichzeitig ärgere ich mich über mich selbst – denn eigentlich war ich Anfangs gar nicht mal so scharf auf den Job. Dann konnte ich mich irgendwann mit dem Gedanken gut anfreunden. Was hätte sein können, wenn das bei Lok geklappt hätte?“ Jerke schüttelte selbstsicher den Kopf
„Gar nichts.“ Ich sah ihn fragend an.
„Glaub mir Julian, es gab nie eine realistische Chance bei LOK. An dem Tag, als du dich mit ihrer sportlichen Leitung getroffen hast, war die Zusage für Seitz bereits beschlossen. Aber das Management wollte einen Plan B oder C, falls die ganze Nummer schief geht. Du warst einer dieser möglichen Pläne. Einer von mehreren.“Jetzt war ich sprachlos. Kurz kreisten meine Gedanken im Kopf und aus dem eben noch unangenehmen Ziehen im Magen wurde ein wütendes Aufbäumen einer Stichflamme.
Ich nahm noch einen größeren Schluck meines Bieres.
„Diese verdammten…Heikos!“ entfuhr es mir und Hans schnippste zustimmend mit den Fingern.
„Jetzt sprichst du schon wie ein echter Chemiker!“. Wir lachten. Sein Hinweis, vorausgesetzt man konnte dem Glauben schenken, was das Bewerbungsprozedere bei LOK anging, hatte die Situation eindeutig aufgelockert und entspannt. Gleichzeitig spürte ich eine innere Wut auf das Management in Probstheida.
„Aber woher…?“ hakte ich nach.
„Ich habe doch gesagt wir haben unsere Quellen. Das soll für dich nicht von Belang sein.“ Das war für mich natürlich nicht zufriedenstellend, aber ich spürte, dass ich jetzt mit Nachfragen wahrscheinlich nicht weit kam. Wieder starrten wir auf das Spielfeld vor uns.
„Fakt ist, hier bei Chemie gibt es keine zweite Wahl, das sollte dir bewusst sein. Hier zählt nicht, wo du herkommst, nur was du bereit bist in diesen Verein und damit die Gemeinschaft einzubringen.“ „Aber warum genau ich?“ fragte ich immer noch zweifelnd.
„Genau aus den Gründen, die wir dir genannt haben.“ sagte Hans schulterzuckend.
„Unsere Infos vom LOK-Prozedere, die Empfehlung, deine Fußball Philosophie. Das passt für uns alles. Zugegeben, ich habe es dann vielleicht etwas leidenschaftlich vorangetrieben und Martin musste ich auch am Anfang ein klein wenig überzeugen. Aber so ist das halt zwischen uns Jüngeren und der älteren Generation. Wir müssen manchmal etwas Überzeugungsarbeit leisten, aber letztlich können wir doch unsere Ideen auch einbringen. Und du hast sie am Eingang gesehen. Die Meistermannschaft von 1964. Wie du vielleicht weißt, nannte man sie damals „den Rest von Leipzig“. Nun ich denke dieses Motto ist zwar etwas überspitzt heutzutage, aber ein wenig tragen wir es wohl auch noch stolz in uns und sind dann eher bereit den Abgelehnten eine Chance zu geben.“ Hans leerte seinen Becher, erhob sich und klopfte mir auf die Schulter.
„Auch wenn du mir ja gerade quasi schon zugesagt hast – schlaf nochmal eine Nacht drüber und schreib mir morgen. Hier ist meine Karte mit der Dienstnummer.“ Er hielt mir das grün-weiße Kärtchen hin, welches ich vorsichtig in der Jacke verstaute.
„Ich muss jetzt rüber zum Feuer. Die Pflicht ruft. Kommst du mit?“ Ich antwortete, ohne ihn groß anzusehen.
„Nein danke. Ich hab genug für heute.“„Schön, dann hören wir uns morgen und sehen uns Montag.“ Er zwinkerte mir zu und ließ mich wieder alleine sitzen. Ich blieb noch einen Moment, ehe ich die Motivation fand mich zu bewegen und verließ den Sportpark über das Eingangstor. Das Gelächter und Stimmengewirr im Hintergrund wurde immer leiser, während es schließlich, als ich durch die Siedlung am Bahnhofseck ankam, ganz verstummte.
Ich dachte an Lok, an all die Zweifel und Gespräche des heutigen Tages und dann dachte ich an den alten Mann mit dem Foto. An seine Worte:
„Keiner hat an uns geglaubt. Genau deswegen!“Ein leichtes Lächeln huschte über mein Gesicht. Vielleicht war das der Anfang von etwas, was man nicht planen konnte. Etwas, das man am Ende einfach fühlen musste. Vielleicht hatte das Leben einfach nur kurz den Umweg über Probstheida gebraucht, um mich dorthin zu führen, wo ich wirklich hingehörte.