Zwölf Jahre später
Ich hasse Flughäfen. Dieses künstliche Licht, das nie ganz Tag und nie ganz Nacht ist. Diese endlosen Schlangen, das nervöse Rascheln von Tickets, das ständige Piepen irgendwo.
Und trotzdem saß ich wieder in einem. Zwangsläufig.
Ich wollte mal wieder nach Hause – etwas abschalten von der Großstadt, der Arbeit, den Menschen. Ganz allgemein.
Das war es schließlich, was mir all die Jahre immer wieder Kraft gegeben hatte und meinen Akku auflud: die Sonne, der Strand, das Meer. Und natürlich Muttis Essen – das war sowieso das beste.
Der dauernde Regen in England hatte mir über die Jahre doch ziemlich zugesetzt – war ich es doch von Kindesbeinen an gewohnt, im Jahr nie weniger als 25 °C zu haben.
Zu dieser Jahreszeit hatte man Glück, wenn es in London überhaupt zweistellig wurde.
Nach dem Abi hatte ich in England studiert – Sportwissenschaften, dann Fusballmanagement und Datenanalyse , und irgendwie hatte sich daraus eine Laufbahn ergeben, die man wohl als „amateurhaft“ bezeichnen konnte.
Ich hatte bei ein paar semi-professionellen Clubs hospitiert – Sixth Tier, Seventh Tier.
Ich war der Typ mit der Mappe, der Statistiken manuell trackte, Gegner analysierte und Taktiken entwarf – während andere sich fragten, warum der Typ das alles für ’n Appel und ’n Ei plus Kost und Logis machte.
Es war nicht glamourös. Aber es war echt.
Trotz der vielen Belobigungen, wie gewissenhaft ich meine Arbeit doch erledigen würde und wie gut meine taktischen Ideen seien – umgesetzt hat man sie nie.
Geschweige denn, man hätte es ernsthaft in Erwägung gezogen, mir eine richtige Festanstellung zu geben.
Deswegen habe ich beschlossen, meinen letzten "Vertrag" zum Ende des Jahres auslaufen zu lassen – und über Weihnachten erstmal wieder nach Hause zu fahren.
Und hier war ich nun: Gerade aus London gelandet, durfte ich mich mal wieder in einem der von mir nicht favorisierten Flughäfen in den USA aufhalten und auf meinen Anschlussflug warten.
Dritter Kaffee. Terminal 5. Es war laut, schlecht klimatisiert und zu viel von allem. Zu viele Koffer, zu viele Schlangen, zu viele schlecht gelaunte Servicemitarbeiter – und auch zu viel Wartezeit.
Ich hatte vier Stunden Aufenthalt, bis es weiterging nach Basseterre. Der Anschlussflieger war ein klappriges Propellerflugzeug, das seine beste Zeit schon lange hinter sich hatte.
Wahrscheinlich brauchten sie die vier Stunden, um das Teil überhaupt wieder startklar zu bekommen.
Aber was soll's. Ich war die Route schon mehrfach geflogen – auch mit noch schlechteren Maschinen.
Bis jetzt hat es immer geklappt.
Nur hoffentlich sitze ich nicht neben Dickmobs da drüben, der gerade mit seinem offensichtlich viel zu schweren Koffer versucht, die Dame am Schalter davon zu überzeugen, dass er das wohl „immer so“ mache und noch nie extra Gebühren habe zahlen müssen. Interessierte die Dame offensichtlich nicht – denn Mopsi wuchtete seinen Koffer von der Waage auf den Fliesenboden, öffnete ihn und fing an, Süßigkeiten auszusortieren, die wohl hierbleiben müssten.
Er hatte sichtlich Probleme, sich zu entscheiden, und fing hörbar an, vor sich hin zu schimpfen:
„– Keene Kulanz, Kunde is König, dat soll the land of oppatuniti sein...“ hörte man ihn berlinern.
Guck an – ist gar kein Amerikaner, sondern ein prall gefüllter Berliner, lachte ich in Gedanken.
Meine Mutter hatte gesagt, dieses Weihnachten müsse ich unbedingt kommen.
„Du darfst das nicht aufschieben, Johnathan. Es ist wichtig.“
Was genau sie damit meinte, hatte sie nicht gesagt. Und ich hatte nicht nachgehakt.
Eigentlich feierten wir Weihnachten gar nicht großartig. Die Schokolade bekomme ich ein paar Wochen später zum halben Preis – und Bäume im Haus gibt’s bei uns auf der Insel sowieso nicht.
Also saß ich nun hier. Zwischen amerikanischen Familien mit zu vielen Kindern, schlafenden Backpackern, dem Berlinerchen und einem Plastikbecher lauwarmen Kaffees.
Ich war in den letzten Jahren häufiger nach Hause gekommen. Nicht oft, aber regelmäßig.
Meist für eine Woche, manchmal auch nur fürs Wochenende.
Meine Mutter war nie jemand gewesen, der viel verlangte – aber diesmal klang es anders.
Nachdrücklicher.
Ich starrte auf die digitale Anzeigetafel, während mein Kopf sich langsam entrollte wie ein alter Film.
Ich zuckte kaum, als der Name meines Fluges über die Lautsprecher dröhnte:
„Letzter Aufruf für den Flug nach Basseterre. Letzter Aufruf.“
Ich muss wohl doch eingenickt sein.
Im Flieger roch es nach altem Stoff und warmer Luft. Die Propeller begannen zu kreischen, als hätte jemand sie beleidigt.
Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen.
Ich hatte keinen Sitznachbarn – man muss auch mal Glück haben.

Noch zwei Stunden bis zu meiner Insel.
Noch zwei Stunden bis zur Antwort auf eine Frage, die ich noch gar nicht gestellt hatte.