Kapitel 1 – Der erste Tag – Fortsetzung
Die Sonne stand schon fast senkrecht am Himmel. Keine Wolke, kein Wind, kein Erbarmen.
Nach dem Training war ich direkt runter zum Strand gegangen – nicht, weil ich Lust auf ein Bad hatte, sondern weil ich irgendwohin musste, wo es weniger nach Schweiß, Rasen und unentschiedenen Lebensentwürfen roch. Die Turnschuhe knirschten über die schmale Promenade, der Sand leckte bereits gierig an der Betonstufe, die zum Wasser führte. Ich ging hinunter und suchte mir einen Platz im Schatten eines halbverfaulten Ruderboots, das aussah, als hätte es seit Jahren keinen Tropfen Wasser mehr berührt. Ein paar Kinder planschten am Ufer, eine alte Frau watete mit hochgezogenen Röckchen durchs Wasser, und irgendwo flimmerte Reggaeton aus einem tragbaren Radio, das mehr rauschte als spielte.
Ich ließ mich auf den nicht allzu heißen Sand im Schatten des Boots sinken, streckte die Beine aus und zog mein Handy aus der Tasche.
Zeit für das Gespräch, das ich den ganzen Vormittag über vor mir hergeschoben hatte.
Anruf: Mervin Lewis
Tuut. Tuut. Tuut. Mailbox.
„Okay, nochmal.“
Wieder dasselbe Spiel. Dreimal. Viermal. Beim fünften Mal hob ich resigniert den Blick zum wolkenlosen Himmel.
Als würde er mich absichtlich ignorieren.
Schon aus der Ferne hörte ich:
„Billiger, billiger, billlliger!“
Die Stimme kam näher. Dann sah ich ihn – ein dunkelhäutiger Mann, vermutlich aus Westafrika. Er trug mehrere Kleidungsschichten: ein weites, langärmeliges Shirt unter einem bunt karierten Stoffhemd, darüber ein Strohhut mit roten Schleifen – die ohne den nötigen Wind einfach nur träge herunterhingen. Dazu eine glitzernde Sonnenbrille, die so groß war, dass sie wie Spielzeug wirkte. Sein Bauchladen war monströs – ein Holzgestell, das ihm mit dicken Gurten über den Schultern hing, vollgestopft mit allem, was man nicht brauchte: bunte Ketten, Billigsonnenbrillen, aufblasbare Delfine, klappernde Armbänder, Plastikuhren, Räucherstäbchen, Flipflops in Größe 30. Das Ding musste mindestens 30 Kilo wiegen. Zusätzlich trug er noch einen ganzen Stapel Strandhandtücher, die er sich über einen Arm gehängt hatte – bestimmt nochmal 25 Kilo.
Seine Füße waren nackt – die Sohlen auffallend hell, fast weiß, als hätte der Sand sie in Stein gemeißelt.
„Lookie lookie, Chef! Heute alles billiger!“
Bevor ich etwas sagen konnte, kniete er sich mit einem tiefen Stöhnen neben mich in den Sand und legte die Handtücher beiseite.
„Guckst du hier – schöne Kette, original Sunglasses! Oder brauchst du diese?“
Er zeigte auf einen rosa Miniventilator, der einen schwächlichen Windstoß von sich gab. Ich schaute ihn ein wenig irritiert an, und bevor ich etwas sagen konnte, setzte er direkt nach:
„Heute billig, morgen teuer!“
„Nein danke.“, stieß ich hervor.
„Chef, guckst du! Mach ich dir "Special Price", nur für dich – nur heute!“
Er ließ nicht locker. Offensichtlich war er schon einige Jahre im Business und kannte alle Tricks. Manchmal ruhten sich die Strandverkäufer auch einfach mal kurz aus, auch wenn sie wussten, sie würden diesmal nichts verkaufen – schließlich war es ein Knochenjob, den ganzen Tag schwer bepackt durch den Sand zu laufen.
Er hielt kurz inne, zog dann ein Foto aus seiner Hemdtasche und hielt es mir hin.
„Chef, guckst du! Meine Familie. Fünf Kinder. Muss ich viel verkaufen.“
Er küsste das Foto, bekreuzigte sich und blickte gen Himmel. Den Zeigefinger hatte er ebenfalls erhoben und zeigte damit in dieselbe Richtung.
Ich seufzte, griff in die Tasche und reichte ihm ein paar Dollar.
„Nimm das. Aber ich kauf nix, klar?“
Sein Gesichtsausdruck wandelte sich schlagartig. Er grinste über beide Ohren wie ein Honigkuchenpferd.
„Danke, danke, Bossman! Vielen Dank! Warte – ein Geschenk!“
Bevor ich reagieren konnte, nestelte er ein buntes, selbst geknüpftes Armband aus einer seiner Taschen und streifte es mir ungefragt ums Handgelenk. Es sah aus wie eines dieser Freundschaftsbändchen, die sich junge Mädchen gegenseitig schenken, wenn sie zeigen wollen, dass sie ganz dolle befreundet sind.
„Nichts kaufen, hab ich gesagt... Das muss jetzt nicht sein.“
„Doch doch! Geschenk! Bringt viel Glück! Und vieeeel Power, wenn Zeit für Sexy Time, du verstehst?“, erklärte er mit einem schelmischen Grinsen.
Ich lachte unweigerlich laut auf und ließ es über mich ergehen.
Er stemmte sich mit einem ächzenden Ruck hoch, wirbelte dabei etwas Sand in meine Richtung, nahm seine Handtücher und marschierte los. Er drehte sich noch einmal um, lächelte mir zu und winkte. Ein paar Meter weiter fing er wieder laut an zu rufen:
„Billiger! Billiger, billiger, billiger! Heute billig, morgen teuer!“
Ich schüttelte den Kopf, schob das bunte Bändchen halbherzig weiter hoch am Arm, als ob es dann weniger peinlich wäre, und tippte auf den nächsten Namen.
Anruf: Rosalie
Zweimal tutete es. Dann:
„Ja?“
Ihre Stimme klang müde, aber nicht genervt. Irgendwie... weich. Fast erleichtert.
„Hey Rose...alie. Ich hoffe, ich störe nicht.“ Früher hatte ich sie immer Rose genannt und hätte es beinahe wieder getan – dann fiel mir ein, dass das vielleicht gar nicht mal so angebracht war. Zumindest im Moment.
„Nein, nein... ich hab fast schon damit gerechnet, dass du dich meldest.“
Natürlich hast du das. Du kennst ihn besser als ich.
„Ehm, ja... Mervin war heute nicht beim Training und ans Telefon geht er auch nicht. Ich wollte fragen, ob du weißt, was los ist. Dein Dad meinte, mit ihm war nichts abgesprochen.“
„Typisch. Dann ist er wohl 'unterwegs'. Heute Nacht ist er nicht nach Hause gekommen. Wir hatten gestern Abend Streit, und dann ist er einfach abgehauen. Ohne was zu sagen.“ Es wirkte so, als wäre das nicht zum ersten Mal der Fall. Ich spürte, wie mir der Schweiß am Rücken klebrig wurde.
„Unterwegs? Wohin?“
Ich versuchte bewusst, nicht auf den Streit einzugehen. Ich hatte schon genug mit mir selbst zu tun.
„Keine Ahnung. Wir haben uns gestritten. Also – nicht laut, aber du weißt schon...“
Meine Güte, ich hab’s verstanden, ihr habt euch gestritten. Und ja, ich weiß es genau.
„Er war sauer. Eifersüchtig. Hat sich reingesteigert und unsinniges Zeug geredet. Dann ist er wutentbrannt rausgestampft wie ein trotziges Kind. Einfach so. Ohne ein weiteres Wort.“
Ich lehnte mich zurück, spürte die Sonne auf dem Gesicht, das Armband am Handgelenk, das irgendwie mehr wog, als es sollte. Aufstellung, Taktik – damit sollte und wollte ich mich beschäftigen. Nicht mit einem Beziehungsdrama.
„Ich... bin trotzdem froh, dass du wieder da bist.“
Sie sagte es sanft. Kein Vorwurf. Kein Zucken.
Ich zögerte.
„Ich auch.“
„Wolltest du nicht… wir hatten doch gesagt, vielleicht Kaffee? Die Tage?“
Mein Magen zog sich leicht zusammen. Ich starrte auf das Meer hinaus, auf das schimmernde, perfekte, schweigsame Blau.
„Ja. Die Tage. Aber…“
Ich holte Luft. Suchte nach einem Ausweg.
„Gerade ist so viel los. Ich muss mich erstmal um alles kümmern, weißt du? Training. Papierkram. Die Jungs auf Kurs bringen. Und überhaupt – mich erstmal wieder einleben.“
„Ich versteh schon. Mach dir keinen Stress. Alles in Ordnung.“
Pause.
„Wenn du ihn findest… sag ihm, er soll nach Hause kommen. Oder sich wenigstens melden.“
„Na klar, mach ich.“
„Danke.“
Klick.
„Hallo?“
Ich schaute aufs Handy. Sie hatte das Gespräch ziemlich abrupt beendet. Kein „Tschüss“, kein „Wir sehen uns“, kein „Bis bald“. Ich hab nichts falsch gemacht, überzeugte ich mich in Gedanken selbst und ließ das Handy neben mir in den Sand sinken, während ich die Beine ausstreckte und kurz die Augen schloss.
Eifersucht. Verletzter Stolz. Und ich mittendrin.
Ich wusste nicht genau, wo ich anfangen sollte. Aber mein Bauchgefühl sagte mir: Wenn er irgendwo ist, dann dort, wohin er früher schon flüchtete - wenn er sauer war oder sich ungerecht behandelt fühlte. Also schlug ich die Richtung ein, in der ich die alte Bar von damals vermutete. Früher waren wir da oft – nach Spielen, nach Niederlagen, nach allem, was man wegspülen wollte. Der Weg dorthin war in meiner Erinnerung klar… dachte ich.
Nach zehn Minuten Fußweg war ich mir plötzlich nicht mehr sicher. War es die große Kreuzung mit der halben Palme davor? Oder die, mit der schmale Gasse und dem verrosteten Lieferwagen dahinter?
Ich ging einmal im Kreis, dann noch mal zurück. Hatte ich’s mir eingebildet? Sie musste doch irgendwo hier sein. Oder war ich einfach schon zu lange weg gewesen und konnte mich schlichtweg nicht mehr richtig erinnern?
Nach weiteren zehn Minuten wollte ich die Suche gerade einstellen, doch dann sah ich das Gebäude.
Oder besser gesagt: das, was davon übrig war.
Die Fenster zugenagelt, die Tür aus den Angeln, das Holz verwittert wie in einer Dschungelruine. Das ehemals über dem Eingang hängende, aus bunten Neonröhren bestehende Schild, lag im Staub und zog schon lange keine Gäste mehr an. „Lighthouse Lounge“ hatte früher darauf gestanden – doch nun fehlte das L, das e war zerbrochen und auch die restlichen Buchstaben hatten ihre beste Zeit schon lange hinter sich gelassen.
Ich trat näher heran, blickte ins Dunkel.
Nichts. Staub. Stille. Vielleicht ein paar Geister.
Es roch ziemlich übel.
Einige Obdachlose hatten das leer stehende Gebäude wohl als Schlafplatz auserkoren, andere wohl eher als Toilette und wieder andere als Müllhalde. Zumindest roch es nach alten Fäkalien, durchnässten Kleidungsstücken, verschimmelten Essensresten und auch ein wenig nach nassem Hund.
"Nichts wie weg hier! Nicht mal für Geld würde ich mich auch nur eine weitere Minute hier aufhalten." Dachte ich und hielt mir beim rausgehen mein T-Shirt vors Gesicht um den ekelhaften Gestank nicht einatmen zu müssen.
Meine nächste Station würde das Amüsierviertel werden. Hier reihten sich die Bars aneinander und vielleicht hatte ich Glück und würde ihn in einer davon antreffen.
Die erste Bar, die ich aufsuchte, war eine nicht ganz so heruntergekommene Spielunke – aber nah dran. Beim Öffnen der Tür stieß ich mit einer stark alkoholisierten Frau zusammen, die gerade im Begriff war, das edle Etablissement zu verlassen. Sie sah fast genau so edel aus, wie der Schuppen aus dem sie gerade heraustorkelte.
Lange, fettige Haare, ein paar unechte, viel zu lange Fingernägel sowie ein Parfüm, das man wohlwollend als "Eau de Muff" bezeichnen konnte. Abgerundet wurde das Bild durch einen viel zu kurzen Jeansrock, viel zu hohe Absätze, auf denen sie nicht mal geradeaus laufen konnte, und Makeup, das aussah, als hätte sie es mit dem Hochdruckreiniger aufgetragen..
"Ehhh, pass doch auf du Trottel" fuhr sie mich harsch an.
"Behandelt man so etwa eine Lady" lallte sie weiter.
"Oh, tut mir leid – ich wusste nicht, dass eine Lady anwesend ist. Ich bitte vielmals um Verzeihung."
Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen.
"Arschloch" rief sie mir noch hinterher, doch ich war schon auf dem Weg zum Barkeeper.
Trotz des Anblicks der Bar, war sie überraschend gut gefüllt. Lediglich ein paar wenige Tische waren unbelegt. Die Stimmung war ausgelassen, die Musik war laut und es wurde sogar vereinzelt getanzt. Mein Blick glitt durch den Raum, Mervin konnte ich jedoch nirgends entdecken. An der Theke angekommen, fragte ich den Barmann nach ihm. Dieser war allerdings keine große Hilfe, denn entweder wollte er mir nicht helfen oder er kannte ihn wirklich nicht. Das Meiste was er sagte, konnte ich aufgrund der lauten Musik sowieso kaum verstehen. Ich musste Wohl oder Übel weitersuchen.
Die zweite Bar die ich betrat, war hell, steril, modern – und völlig leer. Der Barkeeper war jung, arrogant und zu cool, um sich mit mir zu beschäftigen. Kein Wunder das der Laden nicht lief.
Die dritte Adresse war einer dieser Irish Pubs, die es offenbar überall auf der Welt gab. Ganz schön weit gereist die Iren. Draußen standen grüne Plastikstühle, an grünen Tischen, mit grünen Tischdecken. Die grünen Sonnenschirme waren mit Kleeblättern verziert, die natürlich ebenfalls grün waren - nur der Farbton war leicht unterschiedlich. Jetzt wussten zumindest meine Augen, was ein Kulturschock war. Mervin konnte ich in all dem Grün nicht ausmachen.
Schräg gegenüber der grünen Hölle, lag noch einer kleinere, unscheinbare Bar, die ihren Eingang in einer Seitengasse hatte.
Über der Tür war lediglich ein kleines Neonlicht angebracht auf dem "Open" stand. An der Wand neben der Tür, war eine Karte angebracht, die wohl früher von einem Glaskasten umgeben war. Jetzt lagen nur noch einige Scherben davor auf der Erde und die Schrift war unleserlich.
Schon beim Eintreten schlug mir der Geruch von Alkohol, Fett und Desinfektionsmittel entgegen.
Basslastige Musik pumpte aus einem Lautsprecher, der eindeutig nicht für diese Lautstärke gemacht war. In der Mitte des Raums stand ein Tisch. Und darauf: Mervin. Tanzend.
Um ihn herum eine Traube Menschen, größtenteils jüngeren Jahrgangs. Einige gröhlten, andere lachten, es wurde gepfiffen, gefilmt, kommentiert.
„Ey, guck dir den mal an!“
„Wie peinlich!“
„Schnell, nimm das auf!“ – „Ja man, ich stream das live!“
Ein Trauerspiel.
Mit halb heruntergelassener Hose, weit offenem Hemd und nur einem Schuh, schwankte er über den Tisch. Tanzen konnte man es eigentlich gar nicht mehr nennen. Ohne Takt oder Rhythmus, hielt er gerade so das Gleichgewicht. Er stampfte auf, ruderte mit den Armen und zeigte Obszöne Gesten. Leere Becher flogen, Bierfontänen schossen durch die Luft wie beim Formel-1-Podium. Er grinste breit, als hätte er genau dort gerade gewonnen.
Ich musste dem Ganzen ein Ende bereiten, bahnte mir einen Weg durch die Menge und ging direkt auf ihn zu.
„Mervin! Runter da.“
Ich packte seinen Arm, er wirbelte halb herum, verlor das Gleichgewicht – und kippte mir direkt in die Arme. "Buuhhh!", "Spielverderber!", "Endlich unternimmt mal einer was!", waren die verschiedenen Meinungen die lautstark kundgetan wurden. Mervin war äußerst wackelig auf den Beinen, doch ich hielt ihn fest, bugsierte ihn auf einen nahegelegenen Stuhl und dann passierte es.
Kaum das er saß, beugte er sich vor und hustete ein paar Mal. Um auf Nummer sicher zu gehen, begab ich mich hinter ihn.
Ein Moment der Stille.
Und dann:
„Uuurrggh…“
Es folgte ein Strahl von immensem Ausmaß. Ohne Zurückhaltung, ohne Scham, die volle Breitseite.
Eine "Mojito-Knabberspaß-Mischung" ergoss sich mitten auf den Boden – vor allen Gästen.
Zwei, drei Wiederholungen folgten.
Das Geschrei der Damen war mindestens dreimal so laut wie das Gelächter der Herren.
Schnell machte ich mich auf den Weg zum Tresen und wandte mich an den Barmann. Ich wollte nur noch raus
„Was schuldet er dir?“
Der Mann grinste, warf einen Blick auf das Schlachtfeld und riss einen Zettel vom Block.
„Sagen wir 275 Dollar. Plus 50 für die Reinigung.“
"Bezahlt er für alle?"
„Zumindest hat er gerufen: 'Geht auf mich!'“
So viel hatte ich nicht bei mir – und ein Kartenlesegerät suchte man hier wohl vergeblich.
"Hör mal Meister, ich geb dir jetzt 50 Dollar, dann lass ich unsere Ausweise hier und morgen bringen wir den Rest."
"Das ist ja mal wieder typisch, erst einen auf dicke Hose machen und dann nicht genug Kohle..."
"Willst du jetzt die Polizei rufen oder was? Bestimmt nicht, der Laden hier ist genau so illegal wie deine Rechnung. Du nimmst jetzt die 50 Mäuse und morgen bekommst du den Rest, sonst geh ich einfach so!
"Du hast vielleicht nerven, hier einfach so reinzukommen und..."
"Deal?" sagte ich, bevor er überhaupt ausreden konnte.
"Arghh, na gut. Aber wehe ich bekomm morgen meine Kohle nicht!"
Ich sagte nichts mehr. Ich wollte auch nichts mehr sagen.
Mervin bekam von all dem gar nichts mit, er war bereits eingeschlafen. Im sitzen. Auch der Rest der Gäste hatte sich wieder beruhigt und verteilte sich im restlichen Teil der Bar.
Nur noch die Pfütze – und der beißende Geruch drumherum – erinnerte an seine Eskapaden.
Stützend zog ich ihn vom Stuhl weg, halb tragend, halb schleifend, während er langsam zu sich kam und röchelte. Zusammen verließen wir endlich diesen verdammten Zirkus und gingen auf die Straße.
Es war spät geworden. Die Sonne war schon untergegangen, die Luft kühl. Kurze Zeit später kam auch noch Wind dazu. Natürlich.
Mervin hing auch ohne Regen schon wie ein nasser Sack an meiner Seite. Ich roch ihn. Ich roch die Bar. Ich roch das, was mal Stolz gewesen war.
Eine Zeit lang zog ich ihn schweigend neben mir her, dann gab er wieder Töne von sich. Er hustete, würgte und entschuldigte sich. Oder fluchte. Oder beides.
Und dann – pünktlich wie eine Strafe – fing es an zu regnen. Erst nur ein paar Tropfen. Dann prasselnd.
Ich ließ ihn nicht los.
Seine Klamotten waren jetzt immerhin wieder halbwegs sauber. Das war das einzig Positive.
Der Regen war nun wie eine tropische Dusche auf Monsunstufe. Kein Nieseln. Kein sanftes Trommeln. Sondern ein klatschendes, gnadenloses Nass, das dich in Sekunden komplett durchnässt – inklusive Unterwäsche.
Mervin schlurfte wieder etwas eigenständiger neben mir her, die Füße schwer, der Kopf tief.
Donner grollte über den Hügeln, Blätter fegten durch die Straße, irgendwo klirrte eine Mülltonne um.
Ich hoffte, wir würden es schweigend durchstehen. Aber Mervin hatte andere Pläne.
Plötzlich blieb er stehen.
„Du hättest nicht zurückkommen sollen.“
Ich drehte mich zu ihm.
„Ich hab dich gerade aus der Bar getragen, in der du dich auf einem Tisch blamiert und dann auf den Boden gekotzt hast. Vielleicht nicht der beste Moment Anfeindungen.“
Er starrte mich an. Die Augen glasig. Die Stimme heiser.
„Du hättest wegbleiben sollen.“
Er ballte die Hände zu Fäusten. Oder etwas, das wie Fäuste aussah. Dann machte er einen Schritt auf mich zu – torkelnd, langsam, wie ein betrunkener Boxer in Runde elf.
„Mervin…“
Er holte zum Schlag aus.
Daneben.
Noch ein Versuch – ich wich aus.
Wie in Zeitlupe versuchte er, mich zu umkreisen und schnaufte angestrengt.
Dann versuchte er es mit etwas Anlauf...
...rutschte aus, stolperte über seine eigenen Füße und fiel mit dem Kopf voran auf den Boden.
Einen Moment lang war nur der Regen zu hören. Dann ein lautes, dumpfes Fluchen.
Ich trat zu ihm, reichte ihm die Hand.
„Fühlst du dich jetzt besser? Na komm. Bevor der Regen dich noch wegspült.“
Er griff zu. Schwer. Nass. Ich zog ihn hoch – und plötzlich war alles ruhig.
Er sah mich an. Keine Wut mehr. Keine Aggression.
Dort stand nur noch ein kleiner Junge, rotäugig im Regen, verloren zwischen Trotz und Tränen.
Noch bevor ich meine Gedanken geordnet hatte, kam er einen Schritt näher und fiel mir um den Hals.
„Warum hast du nie geschrieben? Nie gefragt, wie’s läuft? Einfach weg – und dann... bist du wieder da. So als wär nichts.“
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Also sagte ich nichts.
"Alle freuen sich, nur weil du da bist. Aber mich fragt niemand."
Er ließ mich los und wir setzten uns an eine flache Hauswand.
Beide klatschnass, beide schweigend.
Der Regen trommelte auf das Blechdach über uns, der Wind drehte leicht – und die Welt war für einen Moment ganz still..
Mervin schnaubte. Dann lachte er leise.
„Ich seh aus wie’n begossener Pudel, oder?“
„Wie ein kleiner, eifersüchtiger nasser Pudel.“
Wir lachten. Ehrlich. Kurz.
Dann lehnte er sich zurück. Ich fingerte mir eine halb durchgeweichte Zigarette aus der Packung und steckte sie an. Die Wolken zogen vorbei und gaben den Blick auf einen sternenklaren Himmel frei. Ich schaute eine Weile nach oben.
Als ich aufgeraucht hatte, bemerkte ich, dass Mervin wieder eingeschlafen war.
Einfach so. Mitten im Regen. Mit dem Kopf an der Hauswand.
Ich schob ihn mir über die Schulter. Wie einen Mehlsack. Oder einen alten Freund.
Den ganzen Weg zu ihm nach Hause traf ich keine Menschenseele. Als ich ankam und klopfte, schaute Rosalie aus dem Fenster. Sie war wohl die ganze Nacht aufgeblieben
Sie öffnete ohne ein Wort. Ich trat mit Mervin über der Schulter durch den Flur, rempelte erst die Vase am Sideboard, dann den Wäscheständer, stolperte durchs Wohnzimmer mit all seinem Deko-Kram – und schob ihn endlich in den Garten.
Draußen stand eine Hollywood-Schaukel. Verwaschenes Blau. Fleckiger Stoff. Ich ließ ihn langsam darauf sinken. Er murmelte im Schlaf irgendwas von „nicht meine Schuld“.
Ich trat einen Schritt zurück. Schließlich holte ich noch eine Decke und legte sie behutsam über den durchnässten Mervin. Rosalie stand in der Tür, verschränkte die Arme.
Dann sagte sie:
„Willst du einen Kaffee? Die Sonne geht gleich auf.“
Wir saßen auf der Terrasse. Die Luft dampfte noch vom Regen. Ich hatte eine Zigarette im Mundwinkel, sie den Kaffee in der Hand. Mervin schnarchte leise auf der Schaukel.
Wir sprachen stundenlang.
Über früher.
Über sie und Mervin.
Über mich.
Über Bradshaw, der laut Rosalie „immer gehofft hatte, ich würde zurückkommen – und nicht, dass Mervin sein Schwiegersohn würde.“
Es sollte anders kommen.
Wir lachten. Wir schwiegen.
Wir sagten alles, was gesagt werden musste. Und philosophierten über das Hätte, Wäre, Wenn.
Als der Himmel heller wurde und sich über dem Meer die ersten Lichtstreifen zeigten, war der Kaffee längst ausgetrunken.
Ich stand auf, streckte mich, sah sie an.
„Ich geh dann mal. Bevor es noch peinlich wird.“
Sie lächelte.
Ich ging zu Fuß. Nass, müde – aber irgendwie ... leicht.
Zuhause zog ich mich aus, warf alles in den Wäschekorb und ließ mich aufs Bett fallen. Die Matratze quietschte. Mein Rücken knackte. Meine Gedanken rauschten.
Ein Tag. Nur ein Tag.
Und trotzdem fühlte es sich an wie ein ganzes Leben.
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