Die Sonne stand schon etwas höher, als ich mich auf den Weg zum Stadion machte.
Im Auto roch es nach dem, was meine Mutter mir eingepackt hatte – zwei dick belegte Sandwiches auf süßlichem Maisbrot, mit gebratenem Hühnchen, scharfer Mango-Paste und ein paar Scheiben Avocado.
Nichts Aufwendiges, aber karibisch, sättigend und, wie immer, mit Liebe gemacht.
Ich bog auf die Landstraße Richtung Westen ab, schob das erste Sandwich aus der Alufolie und biss ab.
Es schmeckte wie Heimat. Knusprige Kruste, saftiges Fleisch, scharfe Süße.
Ich kaute langsam, versuchte, jeden Bissen zu genießen und jeden Geschmack einzeln zu erfassen.
Ein paar Minuten lang zählte nichts – nur dieses Brot, das ich in England nirgends bekommen hatte.
Klar, auch dort hatte ich karibische Restaurants ausprobiert – in Brixton, in Peckham, in einem winzigen Takeaway an der Holloway Road.
Ich hatte Jerk Chicken gegessen, Doubles, frittierten Fisch, weiches Bake – alles dabei.
Aber nichts davon schmeckte wie hier. Nicht so warm. Nicht so echt.
Und trotzdem hatte ich mir in London eine kleine Stammbar gesucht, gleich hinterm College.
Dunkle Ecken, klebrige Tische, kaltes Red Stripe. Der Koch kam aus Saint Lucia, der Barkeeper aus Antigua.
Wenn ich ein bisschen Heimweh hatte, ging ich dorthin.
Wir redeten über Zuhause. Über die Hitze, das Meer, die Politik und unsere Leute.
Ich nannte es meine kleine Zufluchtsinsel.
Die Straße war staubig, mit leichtem Gefälle. Zuckerrohr wuchs rechts und links, in ungleichmäßigen Reihen, vereinzelt standen kleine Häuser – aus Holz, Blech oder beidem.
Kinder spielten mit einem halbaufgepumpten Ball am Straßenrand.
Zwei Ziegen trotteten quer über die Fahrbahn. Ein Besitzer war weit und breit nicht zu sehen.
Ein LKW hupte mir entgegen, auf dessen Ladefläche mehrere Männer saßen – einer spielte auf einem rostigen Blecheimer im Rhythmus einer Melodie, die nur er hörte.
Ich fuhr durch den Kreisel beim Flughafen Richtung Innenstadt, weiter bis kurz vor das Vereinsgelände gegenüber vom Independence Square, und parkte unter einem schiefen Baum am Rand.
Dann griff ich zur letzten Hälfte meines zweiten Sandwiches und verspeiste es genüsslich. Ich ließ mir Zeit. Kein Grund für englische Hektik – auch das gehörte hier zum Lebensgefühl.
Independence Square
Ein Tourist hatte mich mal gefragt, wann der Bus komme, der ihn in die nächste Stadt bringen sollte. Laut Plan hätte er längst da sein müssen.
Ich hatte gegrinst und gesagt: „Er kommt, wenn er kommt.“
Der Mann dachte erst, ich wolle ihn veräppeln – bis ich ihm erklärte, dass es zwar Pläne gab, man aber nicht davon ausgehen sollte, dass diese auch eingehalten wurden.
Vielleicht war der Fahrer zum Mittagessen eingeladen worden. Vielleicht hatte er auch einfach einen Platten.
Der Mann fiel fast vom Glauben ab – war es in Europa doch üblich, dass das, was auf dem Plan stand, auch funktionierte.
Vielleicht mit Ausnahme der Deutschen Bahn.
Erst als ich fertig war, griff ich ins Handschuhfach. Zwischen alten Quittungen, einem Schraubenzieher und Sonnenbrillen fand ich, was ich suchte: Zigaretten.
Ich zündete eine an, zog tief und schaute dem Rauch nach, wie er vom Wind weggetragen wurde.
Für einen kurzen Moment war ich rundum zufrieden. Ausgeschlafen, gesättigt – und zuhause.
Nur der Rauch, die Hitze, das leise Brummen von Insekten.
Ich warf den Rest Alufolie in den Fußraum, schulterte meinen Rucksack und stieg aus.
Der Parkplatz vor dem Stadion war fast leer. Ein paar Fahrräder, ein Moped, ein rostiger Pickup.
Ich streckte mich kurz und ließ den Blick über das Gelände schweifen.
Das Vereinsgelände wirkte kleiner als in meiner Erinnerung – oder ich war einfach gewachsen.
Das Gras war von der Sonne braun gebrannt und teilweise trotzdem zu lang.
Die Kreidelinien waren blass und unsauber gezogen, auch die Tornetze waren ausgefranst – an einer Stelle fehlte sogar ein großer Teil.
Auf einer Seite grenzte der Platz fast direkt ans benachbarte Cricketfeld, auf der anderen stand die einzige „richtige“ Tribüne.
Die Farbe der türkisen Sitzschalen blätterte bereits ab. Man sah ihr an, dass sie viel erlebt hatte – Regen, Sonne, unzählige Hintern.
Dafür hatte die kleine Überdachung immerhin keine Löcher.
Daneben: eine zweite Tribüne. Etwas kleiner, ohne Dach. Sie musste neu sein – bei meinem letzten Besuch war sie noch nicht da.
Und doch passte sie sich jetzt schon an: verwittert, windschief, ein Teil des Ganzen.
Glanz? Fehlanzeige. Aber das Herz war da. Immer noch.
Ich nahm noch einen letzten Zug, drückte die Zigarette im Sand aus und machte mich auf den Weg zum Platz.

Warner Park Tribünen
Mr. Bradshaw saß schon auf einer der blauen Trainerbänke vor der Tribüne.
Ich erkannte ihn sofort an seinem Umriss – breit, ruhig, die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
Er hatte gewusst, dass ich kommen würde – er kannte mich schließlich schon über ein Jahrzehnt.
Ich hob den Arm zum Gruß.
Obwohl er es ahnte, sah man ihm eine gewisse Erleichterung an. Vielleicht freute er sich sogar ein wenig.
Wir begrüßten uns per Handschlag und wechselten ein paar Worte.
Ich fragte ihn, warum keiner der Spieler trainierte, und er meinte, er hätte erst einmal dafür sorgen müssen, das die Spieler überhaupt alle auftauchten.
Beim ehemaligen Trainer sei das „Training“ wohl zur freiwilligen Sache geworden.
Ich atmete schwer. Das konnte ja heiter werden.
Dann sah ich, wie zwei Kinderwagen um die Ecke bogen – und dahinter erkannte ich sie als Anschieberin: Rosalie.
Ein Baby auf dem Arm, zwei Kinder im Doppelwagen. Sie kam langsam näher und lächelte. Still. Kein Flirt, keine Romantik. Nur Wärme.
Wir umarmten uns kurz, und ich konnte mir nicht verkneifen zu sagen:
„Ich wusste gar nicht, dass das alles deine sind. Du warst ja ganz schön fleißig, während ich weg war.“
Wir mussten beide lachen. Es war ein gutes Lachen. Ein echtes.
Kurz darauf sah ich, wie ein relativ kleiner, aber drahtiger Mann aus dem Kabinengang kam – Jogginganzug, breite Brust, selbstbewusster Gang.
Ohne zu zögern ging er auf Rosalie zu, stellte sich neben sie und legte ein wenig besitzergreifend den Arm um sie.
Ich erkannte ihn sofort.
Mervin Lewis. Ein Terrier-Typ. Schon in der Schule ist er so gewesen – wurde meist als Erster in die Mannschaften gewählt.
Keiner wollte den kleinen Wadenbeißer als Gegner.
Eigentlich hatte ich mich immer gut mit ihm verstanden. Damals war er aber auch noch nicht mit Rosalie liiert.
Heute war er Kapitän der Rockets. Das Herz des Teams. Letzte Saison war er lange verletzt – vielleicht auch ein Grund für den Abstieg.
Aber jetzt schien er wieder fit und voller Elan zu sein.
Er sah mich etwas fragend an, als würde er nicht sofort erkennen, wer vor ihm stand.
Dann blickte er von mir zu Rosalie – und dann wieder zu mir. Eine Ewigkeit schien zu vergehen.
Da dämmerte es ihm: der Kindheitsfreund seiner Frau. Und ein Niemand im Trainergeschäft – wie er kurze Zeit später noch erfahren sollte.
„Wha gwan, Kalkleiste?“ sagte er in Kittian Creole, der Sprache der Einheimischen.
Es bedeutete so viel wie: Was geht ab?
„Kalkleiste“ bezog sich natürlich auf meine – im Gegensatz zu allen anderen Anwesenden – kränklich blasse Hautfarbe.
So hatten sie mich früher genannt. Die, die glaubten, sie wären witzig.
Haften geblieben war er nie, aber wenn jemand sticheln wollte, kam der Spruch.
Ich schaute ihn durchdringlich an. Dann antwortete ich in etwas eingerostetem Kittian Creole:
„Gud maanin. Ow yuh do, Meeeerwin?“ (Guten Morgen. Wie geht’s dir, Merwin?)
Ich wusste, dass er seinen Vornamen hasste. Alle nannten ihn Lewis.
Aber wenn er mir den Spruch drückt, dann spiele ich eben die Karte zurück.
Er schaute mich überrascht an, dann huschte ein Grinsen über sein Gesicht.
Nicht viele wagten es, ihn so zu nennen – schon gar nicht vor anderen.
Trotzdem wirkte er nicht verärgert, sondern eher beeindruckt von der Retourkutsche.
„Come yah, ma bredda“, (Komm her mein Bruder) sagte er und streckte den Arm zum Einschlagen aus.
Ich lachte, schlug ein, und wir checkten Schulter an Schulter.
„Mi na undastan. Wey yuh come yah?“ (Er verstand nicht woher ich so plötzlich gekommen war)
„Mi live by mi Mama’s house. Mi come by di plane.“(Ich versuchte ihm zu erklären das ich bei meiner Mutter wohnte und mit dem Flugzeug gekommen war)
Er grinste. „Dein Kittian ist auch nicht mehr das Beste.“ erlöste er mich endlich.
Mr. Bradshaw und Rosalie, die das Treiben natürlich aufmerksam beobachtet hatten, konnten sich das Lachen kaum verkneifen.
„Ich hatte lange keine Gelegenheit mehr, es zu sprechen“, versuchte ich mich rauszureden.
„Was machst du denn hier? Alte Bekannte besuchen?“, fragte er und schaute dabei Rosalie an – die aber still blieb.
„Dein Schwiegervater hat mich gebeten, mich hier mal umzusehen.“, erwiderte ich knapp und schaute zu Mr. Bradshaw.
Mervin runzelte die Stirn und schaute ebenfalls zu Bradshaw.
„Er war in England, hat studiert. Außerdem war er schon früher allen einen Schritt voraus – wie du bestimmt noch weißt.
Ich glaube, es wäre gut für euch Jungs, mal wieder jemanden Kompetentes von hier vor euch zu haben.“
Mervin sagte nichts. Aber man sah, wie es in ihm arbeitete.
Dann schaute er mich an. „Du bist also kompetent“, sagte er eher wie eine Feststellung als eine Frage.
Ich hatte eigentlich gedacht, sofort auf Gegenwind zu stoßen, und mich innerlich schon auf eine Diskussion mit der kompletten Meute eingestellt.
„Das will ich doch meinen. Oder etwa nicht, Johnathan?“, riss mich Mr. Bradshaw aus meinen Gedanken.
„Klar, ich bin der Beste auf meinem Gebiet“, sagte ich – wenig überzeugt klingend.
„Na, schlechter als unser vorheriger Coach kannst du nicht sein – denn das ist gar nicht möglich“, lachte Mervin.
„Komm, ich will dir mal die Mannschaft vorstellen“, sagte Mr. Bradshaw und setzte sich Richtung Kabine in Bewegung.
„Na dann wollen wir mal“, dachte ich mir – und stapfte hinterher.
Mervin Lewis - Kapitän und Starspieler
