Die Gefahr ist bei solchen Anlässen immer groß, dass man ganze Religionsgruppen pauschal verurteilt. Ich meine, dass die Grundproblematik darin besteht, dass manche Menschen ihren Glauben (und die Ausübung des selbigen) über andere Grundrechte stellen. Nicht umsonst folgt der Artikel zur Glaubensfreiheit und freien Religionsausübung erst an vierter Stelle im Grundgesetz und damit nach dem Grundrecht auf Gleichstellung, Gleichberechtigung und Antidiskriminierung.
Wer in Deutschland (dauerhaft) leben möchte, muss sich zwangsläufig an das Grundgesetz halten. Vielleicht kollidieren Aspekte unseres Grundgesetzes mit der religiösen Weltanschauung (oder Teilaspekten dieser Anschauung), dennoch gilt nicht Artikel 5 allein, sondern eben auch alle anderen Artikel des Grundgesetzes und das muss wohl manch einem erst klar werden. Grundsätzlich ist kritisch zu hinterfragen, wenn die eigene Religion diskriminierende Einstellungen fördert oder gar einfordert. Das kollidiert natürlich stark mit dem Geist der Aufklärung, der in Westeuropa tief verwurzelt ist.
ich hoffe, dass ich es so formuliert habe, dass damit jede Religionsrichtung gemeint ist, denn auch das Christentum ist bei weitem nicht frei von diskriminierenden Haltungen und Denkmustern.
Dein Beitrag ist ein schönes Beispiel dafür, wie die Grundrechte oftmals missverstanden werden. Die Grundrechte sind nämlich von ihrer Grundkonzeption her lediglich
Abwehrrechte gegen den Staat, zwischen zwei Privaten entfalten sie keine direkte Wirkung. So könnte z.B. auch ich eine Wohnungsbesichtigung ablehnen, weil der Makler ein Spießer ist, weil er den FM nicht mag, weil er schwul ist, weil er hetero ist, weil er ein Mann ist, weil er christlich ist, weil er jüdisch ist oder weil mir einfach seine Nase nicht passt. Nichts anderes hat die Flüchtlingsfamilie auch getan. Dies mag nicht besonders nett gewesen sein, wahrscheinlich auch nicht besonders clever, das Verhalten als solches ist aber grundsätzlich nicht zu beanstanden, da nicht gegen geltendes Recht verstoßen wurde.
Die zum teils heftigen Reaktionen hier und im Internet resultieren wahrscheinlich größtenteils daraus, dass viele aus den Geschehnissen ableiten, dass die Flüchtlinge ihre Religion über geltendes Recht in Deutschland stellen - gegen welches sie aber gar nicht verstoßen haben. Dabei sind die Intentionen der Flüchtlinge gar nicht bekannt. So wird im Artikel betont, dass für die Flüchtlingsfamilie extra ein schneller Termin dazwischengeschoben wurde - aber kann die Familie das wissen? Geht sie vielleicht sogar davon aus, dass solche Termine in Deutschland üblich sind?
Doch selbst wenn dem so ist, was kann man der Familie vorwerfen? Undankbarkeit? Vielleicht. Aber wäre es so eine wahnsinnig große Überraschung, dass auch einige der Flüchtlinge undankbar sein könnten? Oder sind sie aus unserer Sicht moralisch gezwungen sich uns zu Füßen zu werfen und bis an ihr Lebensende die deutsche Großzügigkeit zu preisen? Gretchenfrage: sind vielleicht einige Deutsche genauso undankbar? Was wäre, wenn eine Hartz IV Familie eine vom Stadt bezahlte 100 Quadratmeter Wohnung als zu klein oder als zu weit außerhalb vom Stadtzentrum ablehnen würde? Gar nicht undankbar, immer noch etwas weniger undankbar als die Flüchtlinge, genauso undankbar oder sogar undankbarer als die Flüchtlingsfamilie?
Worauf ich hinauswill: so ein Verhalten ist noch kein Problem und wahrscheinlich sogar Ausdruck der Religionsausübungsfreiheit der Familie. Problematisch würde es erst werden, wenn eine Familie sich weigert eines ihrer Kinder in die Schule zu schicken oder wenn eine Frau als Lehrerin abgelehnt wird. Es ist auch nicht völlig von der Hand zu weisen, dass besagte Familie ein solches Verhalten in Zukunft theoretisch an den Tag legen könnte, weil sie es so aus ihrer Kultur so gewohnt sein mag. Die große Frage wird dann sein, wie die Familie reagieren wird, wenn man ihr in Ruhe erklärt, dass in Deutschland eine Schulpflicht besteht und dass Frauen auf jeder Ebene des gesellschaftlichen Lebens gleichberechtigt sind - Kentnisse, die gerade bei ungebildeten Flüchtlingen nicht vorausgesetzt werden können.
Insofern ist es müßig sich über diesen konkreten Anlass aufzuregen. Die Schlägereien in Asylheimen machen mir persönlich weit mehr Sorgen, da sie ein weitaus klarerer und eindeutigerer Ausdruck davon sind, dass unsere Rechtsordnung nicht geachtet wird. Kleiner Exkurs am Rande: aus der systematischen Ordnung der Grundrechte auf die Rangordnung zu schließen ist eher schwierig. So können z.B. einige Grundrechte, die weiter hinten stehen, schwerer eingeschränkt werden als solche, die weiter vorne stehen. Im Übrigen findet sich das Grundrecht auf Asyl auch erst in Art. 16a GG und hätte nach einer solchen Argumentation keine besonders starke Stellung.