Interludium V
Sommer 2035, Kopenhagen, Dänemark
Meine "Sabbatical"-Saison (die ja dank Svea und
Frem Kopenhagen gar keine richtige ist) verläuft in verschiedener Hinsicht eher enttäuschend.
Zuallererst natürlich sportlich, trotz der Tatsache, dass Svea ihren Trainerschein mit Bravour besteht und dass sie in ihrer neuen Doppelfunktion den Großteil des Kaders von einem Verbleib eine Liga tiefer (und zu deutlich verringerten Bezügen) überzeugen kann.
Und auch trotz der Tatsache, dass sie sich binnen kurzer Zeit als gute Trainerin mit einem erstaunlichen taktischen Geschick herausstellt.
Frem spielt eine herausragende Saison - steigt aber dennoch nicht auf, da ein Verein namens "
Gladsaxe" noch zwei Punkte mehr holt.
(Dass ich von denen vorher noch nie gehört hatte, veranlasst Svea zu einem Lachanfall und einer Frage, die mir in den nächsten Monaten zum vertrauten - und nicht gerade geliebten! - Begleiter wird: "WAS weißt Du eigentlich, Gerard?!")
Der verpaßte Aufstieg hat jedenfalls zur Folge, dass es am Ende dieser Saison dann doch den heftigen Aderlaß im Kader gibt, den Svea ein Jahr zuvor noch verhindern konnte.
Es hat auch zur Folge, dass der finanzielle Gürtel nochmals enger geschnall werden muß.
Wenn der Aufstieg nicht bald gelingt, muß vielleicht gar das Stadion verkauft werden ...
Die Saison ist aber auch für mich ganz persönlich enttäuschend, denn Svea ist sehr offensichtlich tatsächlich nur daran gelegen, meine fachliche Expertise im Boot zu haben.
Meine leise Hoffnung, sie habe sich vielleicht auch in die verwegene Wuschelfrisur eines gewissen Luxemburgers verguckt, stellt sich als Wunschdenken par excellence heraus.
Was allerdings nicht heißt, dass wir uns nicht gut verstehen würden - ganz im Gegenteil! (Und das macht es nicht leichter, ganz und gar nicht.)
Svea gibt sich alle Mühe, mir den skandinavischen Fussball mit seinen Eigen- und Besonderheiten nahezubringen. Und da gibt es so einige.
Und wann immer ich dann wieder mal unwillkürlich ein großes "O" mit dem Mund forme, weil mir diese Eigenart oder jenes Detail unbekannt sind, klatscht mir erst Sveas glockenhelles Lachen und dann die bereits erwähnte Frage um die Ohren:
"WAS weißt Du eigentlich, Gerard?!"
Nun, vom skandinavischen Fussball immer noch herzlich wenig.
Was ich dagegen weiß: mir juckt es bereits nach wenigen Monaten arg in den Fingern, wieder selbst eine Mannschaft zu übernehmen. Svea beim Training zuzuschauen und es danach mit ihr aufzubereiten ist ja gut und schön, aber ich fühl mich hier ehrlich gesagt von Woche zu Woche mehr wie das fünfte Rad am Wagen. Svea braucht meine Ratschläge selten. Sehr selten. Und mit fortschreitender Saison immer noch ein bißchen seltener.
In meinem Bestreben, endlich wieder etwas sinnvolles zu tun, lasse ich mich sogar dazu breitschlagen, als ehrenamtlicher Scout durch Dänemark und Schweden zu reisen.
Spieler, die sowohl die Klasse haben,
Frem beim großen Ziel "Aufstieg" zu helfen als auch genügsam genus sind, quasi für Kost und (sehr spartansiches) Logis zu spielen, sind ungefähr so häufig zu finden wie ... nein, eigentlich sind sie sogar noch seltener als Nadeln im Heuhaufen.
Auch wenn ich also bei der Spielersuche nicht allzu erfolgreich bin, hat meine Reisetätigkeit doch immerhin den Vorteil, dass ich in der Umgebung Kopenhagens bald eine Menge Stadien - oder besser "Fussballplätze" - genauer kenne.
Samt der dort spielenden Vereine.
Das allein erweitert meinen Horizont deutlich.
Ich wußte vorher zum Beispiel nicht, dass es allein in Kopenhagen im Laufe der dänischen Fussballgeschichte sage und schreibe 16 Erstligisten gegeben hat.
SECHZEHN!
Das Spektrum reicht dabei von so klangvollen Namen wie
FC Kopenhagen oder
Lyngby BK bis zu
Hvidovre IF oder eben
Frem Kopenhagen.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Öresunds, in Malmo, keine 20 Kilometer entfernt, sieht es ähnlich aus.
Malmö FF natürlich, die kenn sogar ich. Aber auch
Malmö City FC,
Ariana FC,
FC Sandzak,
FC Rosengard oder
FC Rosengard 1917 sind hier beheimatet.
Und dann stolpere ich in Schweden eines Tages über einen Club, auf dessen Namen ich mir so gar keinen Reim machen kann.
Und drei Tage später auf den nächsten, der genauso kryptisch benamst ist.
Und auf einmal - als hätte ich versehentlich ein Füllhorn geöffnet - regnet es Tag für Tag Vereinsnamen auf mich herab, die alle das gleiche Namenskürzel tragen.
Egal, wo ich mich in Schweden hinwende - und ich komme sogar bis nach Stockholm auf meinen Touren - überall gibt es scheinbar mindestens einen Club, der dieses Kürzel im Namen trägt.
Mysteriös, meine Neugier ist geweckt!
Als wir eines Abends wieder mal zu dritt beim Abendessen sitzen - wir kochen immer abwechselnd, der Koch ist auch fürs Einkaufen zuständig, was meinem Dänishc durchaus zuträglich war im letzten Jahr -, kann ich meine Neugier nicht im Zaum halten.
Ich hätte auch Google fragen können, klar - aber ich höre sowohl Svea als auch ihrem Vater sehr gern zu, wenn sie mit Begeisterung Dinge erklären. Also frage ich sie fast beiläufig:
"Sagt mal, was bedeutet eigentlich 'IFK'?"
Die beiden schauen erst sich und dann mich an.
"Das weißt Du nicht?", fragt Per Ole reichlich entgeistert.
"WAS weißt Du eigentlich?", prustet Svea im gleichen Moment.
Sie werden aber beide schnell wieder ernst und verständigen sich mit einem kurzen Blick, wer die mühevolle Aufgabe auf sich nimmt, dem luxemburgischen Ignoranten ein weiteres Detail skandinavischer Sportgeschichte nahezubringen.
Svea scheint das Duell gewonnen (oder verloren?) zu haben, denn sie schluckt den letzten Bissen Salat hinunter, spült mit eiem großen Schluck Wasser nach und wendet sich mir zu.
Mit einem breiten, entschieden süffisanten Grinsen.
" 'IFK' ist schwedisch und bedeutet 'Idrottsföreningen Kamraterna' das heißt in etwas soviel wie „Sportvereinigung Die Kameraden“. Der Idrottsföreningen Kamraterna ist ein Zusammenschluß von ungefähr einhunderttausend Sportlern - hauptsächlich Fussballvereine, aber auch Eishockey oder Bowling.
Von
IFK Göteborg oder
IFK Norrköping hast Du ja hoffentlich schon mal gehört, oder?
Die meisten der Vereine unter dem IFK-Banner sind in Schweden beheimatet, aber es gab und gibt auch ein Dutzend finnische Clubs unter diesem Banner sowie mindestens jeweils einen dänischen und norwegischen."
"Und wieso gibt es dieses IFK? Warum wurde es gegründet und warum heißen die Clubs alle gleich?", will ich wissen.
Per Ole schaltet sich ein. "Gegründet wurde der IFK schon 1895 eigentlich als Einzelverein in Stockholm - den
IFK Stockholm gibt es heute noch. Die Gründer waren zwei Gymnasiasten, die gleichzeitig mit dieser Vereinsgründung einen Aufruf in der damals populären 'Jugend'-Zeitschrift "Der Kamerad" schalteten und Jungs und Mädchen in ganz Schweden zu "Filial"-Gründungen aufriefen.
Der Erfolg war überwältigend. Nach zwei Monaten gabe es bereits rund ein Dutzend solcher "Dependancen", zum beispiel in Lulea, Härnösand, Uppsala, Jönköping, Göteborg and Västeras.
Innerhalb weniger Jahre waren es Dutzende IFK-Vereine - viel zuviele, als dass sie alle unter dem Banner des Stockholmer Vereins hätten verwaltet werden können.
Es wurde daher 1901 beschlossen, eine Dachorganisation zu gründen, die sich beispielsweise um die Organisation und Ausrichtung landesweiter Meisterschaften vornehmlich, aber nicht nur, im Fussball kümmern sollte.
Als Name wurde einfach der Name der Zeitschrift verwendet, in der der ursprüngliche Aufruf veröffentlicht worden war.
Heute gibt es weit über 180 IFK-Vereine. Und auch wenn mit der Gründung des schwedischen Fussballverbands und der schwedischen Allsvenskan - der ersten schwedischen Liga - die Ausrichtung nationaler Meisterschaften inzwischen längst nicht mehr in den Händen des IFk liegt, ist und bleibt er doch einer der bedeutendsten skandinavischen Sportverbände.
Ich hoffe, das beantwortet Deine Frage."
Sprichts und wendet sich mit einem ganz ganz leichten Lächeln seinem Bier zu.
Ich dagegen sitze nach diesem Parforceritt durch die Fussballgeschichte reichlich geplättet da.
Eine Information hat sich mir ins Gedächtnis gegraben.
"1895? Dann ist der schwedische Fussball ja richtig alt!"
Svea prustet schon wieder. "Und der dänische ist noch älter! Stell Dir mal vor, Gerard - wir Skandinavier haben lange lange laaaange vor euch Luxemburgern organisiert gegen den Ball getreten.
Die Fussballabteilung des
Kjøbenhavns Boldklub ist nachweislich bereits um 1879 gegründet worden und damit der älteste Fussballverein außerhalb der Britischen Inseln!"
"Interessant", murmle ich, ihren Sarkasmus ob meiner Ignoranz wohl hörend, "danke für die Informationen, ihr beiden."
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Den späten Abend verbringe ich dann doch noch im Internet und suche mir noch ein paar ergänzende Informationen zu den IFK-Vereinen raus, unter anderem eine Liste der noch existierenden Clubs unter diesem Banner.
Ich suche mir ein paar dieser Vereine auf einer Route nach Stockholm raus - mich hat die Neugier gepackt und da ich ja eh gerade in Schweden scoute, kann ich das doch verbinden!
Am nächsten Tag gehts los, bewaffnet mit Lunchbox, Photoapparat, Notizblock und Thermoskanne zwänge ich mich in den alten Fiat Punto, den ich mir zugelegt habe.
Klapprig von außen, aber durchaus zuverlässig. Langsam, aber nicht so durstig. Unbequem zum Drinsitzen, aber schön trocken (innen).
Es wird eine gemütliche Reise. Ich halte immer wieder an, photographiere Stadien, spiele Kiebitz bei Amateurtrainings und genieße nicht nur die frische Luft und die phänomenal idyllische Gegend, sondern auch die Zeitreise in die Vergangenheit.
Viele der Clubs sind inzwischen tief in den Niederungen von Schwedens Amateurfussball angekommen - laut Google spielt selbst der Gründerverein
IFK Stockholm inzwischen in der 4. Liga. genauso wie beispielsweise der
IFK Trelleborg südöstlich von Malmö.
Am Mittag des dritten Reisetages, ich befinde mich inzwischen etwa mittig zwischen Örebro und Stockholm, erreiche ich wieder eine IFK-Spielstätte.
Ich fahre auf den kleinen Parkplatz, steige aus und schlendere zum Spielfeld hinüber, auf dem gerade ein Training stattfindet, wie es scheint.
Das Stadion ("Tunavallen", wie es ausweislich einer großen Tafel scheinbar heißt) weist eine außergewöhnliche Architektur auf: beide Längsseiten des Spielfeldes werden von je einer großen, überdachten Sitzplatztribüne flankiert, die ihrerseits von vielgeschossigen Wohnhäusern begrenzt werden.
Hinter den beiden Toren hat man dagegen deutlich kleinere Stehplatztribünen errichtet.
Ich komme allerdings gar nicht dazu, das alles so richtig auf mich wirken zu lassen, denn urplötzlich steht ein Musterwikinger vor mir: groß (eigentlich riesig), breitschultrig, lange blonde Haare, blonder Vollbart.
Der Fremde blickt gar nicht mal unfreundlich auf mich herab und sagt etwas, das ich nicht verstehe.
Ich zucke entschuldigend die Schultern.
"English?", fragt der Mann.
"Yes, I speak english."
"Are you here for the job?"
"Err ... job?" Ich gucke ein bißchen verwirrt, das kann ich ja ziemlich gut.
"Yes, the manager job."
"Oh. Oooooh! You're looking for a manager for the team?"
"Yes, yes, we do. Are you a manager?" Er klingt irgendwie plötzlich sehr aufgeregt, als er mein Interesse bemerkt.
"Err . . . yes, I am."
"Splendid!"
Eine riesige Pranke krallt sich in meine Schulter und der Mann schleift mich unter allerlei Gebrabbel zum Clubhaus - oder halt sowas ähnlichem. Ist das größte Gebäude hier - von den Vielgeschossern abgesehen, die das Stadion umrahmen - wird also wohl eine Art Verwaltungsgebäude sein.
Wenige Augenblicke später stehen wir in einem kleinen Büro und einer etwas kleineren und irgendwie gemütlicheren Variante meines "Empfangskomitees" gegenüber.
"Martin, who's that?", fragt der Mann hinter dem Schreibtisch.
"A manager who wants the job!", sagt der Große enthusiastisch.
"I'll leave the job interview to you!"
Rumms, knallt die Tür hinter mir zu.
"Have a seat!", meint mein neuer Gesprächspartner freundlich.
"I'm Ludvig Sandberg, the new chairman here. And you are...?"
Die Frage hängt einen Augenblick in der Luft, dann erhebe ich mich schnell wieder und reiche Sandberg über den Schreibtisch hinweg die Hand.
"Lavayeux, Gerard Lavayeux. Pleasure to meet you, Mister Sandberg."
"Pleasures' all mine, Mister Lavayeux. You're not from Sweden, right?"
"Absolutely correct", grinse ich. "I'm from Luxembourg."
"Luxembourg!". Meinem Gegenüber entgleisen kurz die Gesichtszüge. "Why in all hell are you looking for a job in Sweden then?"
"Oh I wasn't, actually - but your friend was very convincing so I thought I could at least come and listen to
what your club has to offer..."
Sandberg lacht, wird aber schnell wieder ernst.
"To be honest, we are looking for the impossible and have next to nothing to offer in return."
In der nächsten halben Stunde bekomme ich einen Rundumblick auf den Club - von der Gründung 1897 über den einzigen Meistertitel 1921 bis zur Gegenwart, die nach dem feststehenden Abstieg in dieser Saison zukünftig "Division 2 Norra Svealand" heißt.
Vierte schwedische Liga also.
Der Verein ist semiprofessionell aufgestellt, verfügt über ein absolutes Schmuckstück von Stadion und tatsächlich auch noch ein paar Fans - trotz anhaltender Erfolglosigkeit in den letzten Jahrzehnten.
Und das Ziel ist der sofortige Wiederaufstieg.
Finanzielle Mittel, so läßt Sandberg durchblicken, gibt es jedoch kaum - mein Gehalt sei ein besseres Taschengeld, das Gehaltsbudget liege bei unter 200.000€ pro Jahr und das Transferbudget sei nicht vorhanden.
Mit jedem seiner Sätze spüre ich ein vertrautes Prickeln auf der Kopfhaut - das ist eine Herausforderung wie gemalt für mich.
Irgendwo im Nirgendwo, wo keiner blöde Fragen zu
FOLA stellen wird, eine wunderbare Gegend - und sportlich wie finanziell, bei aller präsidialer Schwarzmalerei, ziemlich gute Voraussetzungen.
Als der Vereinspräsident eine kurze Sprechpause einlegt, hebe ich die Hand.
"May I ask for a short break to do a quick phone call?"
"Sure."
Ich rufe Per Ole und Svea an und hole mir das Okay, meine Scouttätigkeit zu sofort zu beenden.
Da ich keinen Vertrag habe, ist das reine Höflichkeit und wird von den beiden auch so verstanden.
Svea fragt denn auch nur: "Bist Du sicher, dass Du das ohne Schwedischkenntnisse packst?"
"Na aber sicher!", entgegne ich im Brustton der Überzeugung.
"Wir reden heut abend ausführlich drüber, jetzt muß ich erstmal Nägel mit Köpfen machen."
Kuz darauf unterzeichne ich meinen neuen Arbeitsvertrag - beobachtet von einem sichtlich überraschten Vereinspräsidenten, der offenbar immer noch nicht glauben kann, dass ein Trainer mit einem internationalen Trainerschein "seinen" Verein trainieren möchte..
(In den nächsten Wochen werde ich erfahren, dass vor mir ganze drei Bewerber in einem Monat da waren, die alle noch während der ersten Sätze lachend das Weite gesucht haben.)
Ich bin wieder im Geschäft!
Aktuelle Tabelle (Saison beendet)
"Narrowly avoided relegation" bezieht sich auf die Saison vor der aktuellen, ich steige im Frühherbst und damit kurz vor dem schwedischen Saisonende ein.
Gerard wird also ab sofort auch einen Abstieg in seiner Vita haben, für den er jedoch nichts kann.
Ich wäre wirklich, wirklich gern zu Frem gewechselt, aber der Verein ist Anfang der 2030er aus der vierten Liga abgestiegen (und damit aus den simulierten Ligen herausgefallen) und weigert sich seitdem, wieder aufzusteigen.

Ach so: ich habe mich entschieden, die farbige wörtliche Rede wieder wegzulassen, da sie meines Erachtens eher verwirrt als die Übersichtlichkeit steigert. Oder seht ihr das anders?