Löws größte Schwäche ist, dass er seine Idee vom "ästhetischen Fußball" nicht nur als solche versteht, sondern besessen davon ist, es als Dogma versteht. Er hält das gepflegte Spiel grundsätzlich für überlegen, wenn ich mir Interviews mit ihm durchlese und vernachlässigt dabei zwangsläufig die kleinen, elementaren Dinge (Standard-Training war ja schon angesprochen). Vor der EURO 2012 sagte er noch: "Nur wer schön spielt, holt Titel". Und wurde damit genau wie andere Theoretiker ein paar Wochen später vom FC Chelsea widerlegt (und Inter davor eigentlich auch schon). Das sind Binsenweisheiten, die eigentlich schon ewig widerlegt sind, mit denen Löw sich aber herausputzt, als hätte er das Geheimnis des Fußballs entschlüsselt, hinter das eigentlich noch niemand gestiegen ist.
Ansonsten ist es in der Tat erstaunlich, wie schnell sich so eine Wahrnehmung drehen kann. "Wenn Du gewinnst, bist Du der Held. Wenn Du verlierst, bist Du der Depp. So funktioniert Boulevard", sagte vor kurzem ich glaube Thomas Meggle in einem Interview. Und grundsätzlich weiß sowieso jeder alles besser, obwohl er absolut null komma null mit der täglichen Teamarbeit zu tun hat, bestenfalls mal nach der Arbeitswoche am Büro-PC am Wochenende für 90 Minuten eine ungefähre Ahnung bekommt, und dann darüber schwadroniert, was alles richtig und falsch läuft. Es muss und soll ausgiebig über Fußball diskutiert werden, davon lebt er ja. Aber das rutscht auch schnell in eine Ecke ab, die viel zu schwarz/weiß ist.
- Leistungsprinzip einzufordern, aber selbst nicht zu gewährleisten
Also, dass das nicht gelten kann, ist aber doch eindeutig. Der echte Fußball funktioniert nicht wie ein Managerspiel, wo Spieler sich die größten "Sterne" scouten und dann mal machen. Es gibt taktische und psychologische Überlegungen, hier wachsen mitunter über Jahre Gruppen zusammen oder werden auseinander gerissen, haben Spieler individuelle Fähigkeiten und Eigenschaften, müssen Teammanager gegen Konkurrenten auf absoluter Augenhöhe klare Ideen und Konzepte vertreten, um dauerhaft auf höchster Leistungsebene erfolgreich zu sein. Dass ein Weidenfeller in Löws Überlegungen plötzlich eine Rolle spielt, ist nach seinen einstmals andauernden öffentlichen Forderungen fast ein Wunder, finde ich (ob leistungstechnisch berechtigt oder nicht, spielt keine Rolle). Und dass man da im Extremfall nicht einfach die elf derzeit in ihren Clubs Besten zusammenwürfeln kann, sollte klar sein. Eine vernünftige Vorbereitung haben Nationalmannschaften sowieso im besten Fall alle zwei Jahre im Sommer. Und auch innerhalb eines Teams gibt es sicherlich Überlegungen über die reine Form hinaus. Vor der WM 2010 forderte jeder, unterstützt von Lautsprechern wie Effenberg, die Rückkehr Kuranyis. Klose lief die Saison bei Bayern unter "ferner liefen", das konnte ja nichts werden. Bei der WM 90 wäre Deutschland um ein Haar und ein Hässler-Tor fast nicht dabei gewesen. Die Quali zur EURO 96 hatte alles - absolute Graupenkicks gegen Fußballzwerge inklusive. Wenn es einer wissen muss, ist es der Trainer direkt, nicht der Stammtisch - und der hält auch seinen Kopf dafür hin.