MeisterTrainerForum

Bitte loggen sie sich ein oder registrieren sie sich.

Einloggen mit Benutzername, Passwort und Sitzungslänge
Erweiterte Suche  

Autor Thema: Monkey Hill Blues  (Gelesen 2792 mal)

steffanovic

  • Greenkeeper
  • *
  • Offline Offline
Monkey Hill Blues
« am: 04.Juli 2025, 00:22:25 »

Monkey Hill Blues
_______________________






Prolog 0.1


GONG.

Laut. Schrill. Metallisch. Er ertönte pünktlich wie immer und zerschnitt die drückende Mittagshitze wie eine Machete das Buschwerk. Ich zuckte kurz zusammen und erwachte aus meinen Tagträumen.

Ob Rosalie mich heute wohl ihren Eltern vorstellen würde? Warum sonst wollte sie, dass wir uns erst treffen, wenn sie von der Arbeit zurück sind? Normalerweise freuten wir uns doch über die sturmfreie Bude ohne die neugierigen Blicke der Eltern.

Wie aus dem Nichts stand Miss Augustin plötzlich an meinem Tisch – eigentlich erstaunlich, dass ich die äußerst korpulente Frau in den Vierzigern nicht hatte kommen sehen – und warf einen Blick auf meinen Zettel. Leer, wie fast immer. Ein paar geometrische Formen und ausgeixte Kästchen waren mein gesamtes Werk der letzten anderthalb Stunden.

"Haben wir ein Problem, Johnathan?" fragte sie, wie immer mit diesem Ton, als würde sie sich sogar darüber freuen, mir wieder einmal erzählen zu können, wie enttäuscht sie doch von mir ist, und was für eine gute Zukunft ich doch hätte, würde ich nur mitarbeiten und mich in ihrem Unterricht konzentrieren statt ... ja, was genau machte ich eigentlich stattdessen? Ich konnte diese falsche Schlange noch nie leiden. Tut immer so, als würde sie sich für die Kinder interessieren und nur ihr Bestes wollen ... Bei der nächsten Gelegenheit würde sie wieder jedem, der ihr nicht bis zum Hals in den Arsch kroch, einen reinwürgen. Natürlich hatten es diese Leute laut ihrer Meinung auch völlig "verdient", da sie keine gute Arbeitsmoral besaßen oder was weiß ich ...

Ich versuchte meine Aggression zu unterdrücken und sagte nichts. Was sollte ich auch sagen?

Während ich so tat, als würde ich noch überlegen, rannte der Rest der pubertierenden Meute bereits kreischend aus dem Raum. Die letzten beiden Mädchen sahen sich beim Hinauslaufen noch einmal zu mir um. Ich hörte sie einen kurzen Moment später draußen auf dem Flur kichern. War sicher wieder witzig, dass der einzige Weiße der Schule wieder eine Standpauke bekam und sie es brühwarm auf dem Schulhof erzählen konnten.

Auf St. Kitts, besser gesagt hier in Cayons Highschool – hinter Monkey Hill, von wo aus man auf die Hauptstadt Basseterre hinunterschauen konnte – gab es nur zwei Fraktionen: Cricket-Spinner und Fußball-Fanatiker. Beide Seiten waren überzeugt, dass nur ihre Sportart die Seele der Insel verkörperte. Auf welcher Seite ich mich sah, konnte man durch meine Beschreibung der Spieler schnell ausmachen. Es war natürlich Fußball. Cricket? Kein Kommentar.

"Haaaallooo? Jemand zu Hause?"
Miss Augustin wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum wie ein müder Animateur im Hotelpool.
"Ich glaube, ich muss wirklich mal mit deinen Eltern sprechen. So kann das nicht weitergehen."
Ihre Stimme klang dabei nicht besorgt, sondern eher verzückt, als würde sie sich freuen, ihnen endlich mal erzählen zu können, was sie von ihrem Balg so hielt.

Apropos Eltern ...Meine Mutter Alexandra war "pharmazeutisch-technische Assistentin", wie man heutzutage sagt, und hatte ihre eigene Apotheke an der Hauptstraße. Die hatte sie vor ein paar Jahren von ihrem ehemaligen Chef übernommen, nachdem dieser meinte, es wäre auf Anraten seines Arztes an der Zeit, kürzer zu treten und der Jugend jetzt auch ein Stück vom Kuchen abzugeben – nur um im nächsten Atemzug zu erwähnen, was genau er denn nun gerne an Miete hätte. Ich dachte nur, wie klein dieses Stück denn wohl sein soll ...

Sie war selten zu Hause, meistens müde, immer bemüht. Ich glaube, sie meinte es gut, aber sie wusste nicht, wie man "gut meinen" auch in "gut machen" übersetzt. Bei ihrer Arbeit störten sich die meisten der Einwohner nicht an ihrer Hautfarbe. Ich hatte eher das Gefühl, dass es dem Geschäft sogar ein wenig Auftrieb gegeben hat, da viele dachten, sie würde die "modernen" Medikamente aus Großbritannien oder den USA bekommen. Dass sie beim gleichen Pharmavertreter kaufte wie die Konkurrenz zwei Straßen weiter, hatte wohl noch niemand bemerkt. Vielleicht war es auch der nicht vorhandene, selbst ernannte Schamane – gleichzeitig Ehemann der Konkurrentin – der den Kunden zusätzlich heilende Säfte, Puppen und andersartigen Firlefanz verkaufen wollte und außerdem im Nebenzimmer seine sogenannten  "Austreibungen" vollzog, die man teilweise noch bei uns in der Straße hörte ...

Mein Vater? Johnathan Whitecliffe Sr.? Hat meine Mutter im Laufe der Jahre überredet, das langweilige England mit seinen ganzen Miesepetern zurückzulassen und hierher nach St. Kitts & Nevis auszuwandern, um im "Paradies" zu leben. Dass man auch hier für sein Geld arbeiten müsste und keiner der hier einen Job ausschrieb ausgerechnet auf ihn – den "härtesten Trinker Wycombes", wie er sich einmal stolz im Vollrausch nannte – gewartet hatte, ist ihm damals bei seinem super durchdachten Plan nicht in den Sinn gekommen. Und so ist er irgendwann mal wieder zurück aufs Festland, um zu "arbeiten", wie er damals meinte – das war vor elf Jahren. Seitdem kam nur noch ab und zu eine Postkarte aus Miami mit einem Spruch drauf wie "Chase your dreams" oder "It's always sunny in Florida". Ich hätte ihm gern mal geschrieben, dass es hier auch sonnig ist. Jeden verdammten Tag. Aber den alten Säufer interessiert außer sich selbst sowieso nichts. Und – "Klugscheißer mag niemand, Junge!", wie er damals schon immer gerne sagte, wenn ich ihn auf seine idiotischen Aussagen hinwies ...

Ich lebte also mit meiner Mutter und den ständigen Ermahnungen unseres Nachbarn "Uncle", der fand, ich sollte mit meinem schlauen Köpfchen doch mal "etwas aus mir machen". Und nein, es ist nicht mein richtiger Onkel, und nein, ich weiß auch nicht seinen richtigen Namen - weil ihn alle nur "Uncle" nennen. Als ich ihn doch einmal danach fragte, schaute er mich nur an wie ein Auto und meinte, er verstünde die Frage nicht. Danach ging er ganz schön abrupt mit seinen ziemlich schief eingehängten O-Beinen ins Haus und knallte die Tür unverhältnismäßig doll ins Schloß.

Was aus mir machen ... hier ...

Die Wahrheit war: Ich wusste gar nicht, was ich aus mir machen wollte. Ein Sportler war ich nie. Zu schmächtig für Rugby, zu klein für Basketball und zu langsam für Fußball. Und trotzdem ... Fußball hatte etwas. Kein Sport wie die anderen. Im Fußball konnte man auch von außen etwas bewirken. Fußball war ... Dreck. Schweiß. Streit. Leidenschaft auf dem Feld, und taktisch-analytisch, berechnend und psychologisch daneben. Die letzteren Eigenschaften besaß ich ...

Vielleicht mochte ich Fußball deshalb. Oder weil es das Einzige war, bei dem ich wusste, wovon ich sprach.

"Johnathan, ich rede mit dir!"
Miss Augustins Stimme klang jetzt doch einen Hauch genervter.
"Mhm", murmelte ich.
Sie schnaubte, stempelte meine "Arbeit" mit einem großen, roten Strich – und watschelte mit ihren Stöckelschuhen, auf denen Sie jedoch offensichtlich nicht sehr gut laufen konnte davon, als hätte sie gerade eine besonders anstrengende Pflicht erledigt.

Ich blieb noch einen Moment sitzen. Die Sonne warf gleißende Dreiecke durch die Fenster auf den Boden. Stimmen und Bälle hallten vom Schulhof herüber.
Und ich? Ich überlegte ob Rosalie Ihren Eltern bereits erzählt hatte das sie einen weißen Jungen mit nach Hause bringen würde. Schwarz, Weiß, Grün... - "Ist doch Scheißegal" dachte ich, woraufhin sich Miss Augustin umdrehte und mir einfiel das ich womöglich laut gedacht hatte. "Bin schon weg, keine Fragen, schönen Tag noch!" versuchte ich mich, in dem nettesten mir möglichen Ton, aus der Affäre zu ziehen. Miss Augustin verdrehte ihre Augen und wollte wohl gerade mit der nächsten Belehrung loslegen, da war ich jedoch schon samt Heft und Rucksack zur Pause auf den Schulhof verschwunden. "Hey vielleicht reicht es ja doch zum Profi" dachte ich und musste schmunzeln.







___________________________________________________________________________________________________ _____________

Erstmal einen guten Abend an alle die sich hier eingefunden haben. Ich spiele schon seit über 15 Jahren FM aber hab noch nie eine Story geschrieben, dies wollte ich nun mal nachholen.
Ich mag selbst gerne ausgeschmückte Geschichten, deshalb wird das Tempo wohl dementsprechend langsam. Ihr könnt natürlich gerne Feedback dalassen, sowohl positiv als auch negativ. Wenn der ein oder andere Lust hat sich ein bisschen zu beteiligen könnte ich im laufe der Story gerne Jugendspieler nach euch benennen oder gebe ihnen den Namen den ihr euch wünscht und reagiere dann dementsprechend auf euer Verhalten.
Mal schauen wie weit ich überhaupt komme, geplant ist auf jeden Fall ein Save im Concacaf auf St. Kitts und Nevis und im weiteren verlauf evtl auch andere Länder in der Region. Ich habe auch einen Langfristigen Plan, den würde ich dann mitteilen wenn ich es schaffe hier kontinuierlich zu posten, bringt ja nichts Luftschlösser zu bauen wenn ich nicht dranbleibe nech ;) Auf jeden Fall schon mal vielen Dank für´s lesen und kommentieren und viele Grüße


« Letzte Änderung: 04.Juli 2025, 18:28:25 von steffanovic »
Gespeichert
*13.Dezember 2009©

Elemotion

  • Vertragsamateur
  • ***
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #1 am: 04.Juli 2025, 20:02:01 »

Ein sehr ausführlicher Einstieg und ein neues Fußballland im Forum, ich bin gespannt wie es weitergeht
Gespeichert

steffanovic

  • Greenkeeper
  • *
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #2 am: 04.Juli 2025, 20:46:24 »

Prolog 0.2


Ich lief, ohne mich umzublicken – nicht schnell, nicht gehetzt, einfach weg.
Vorbei an staubigen Wegen, leerstehenden Hütten, Kindern, die barfuß Fußball spielten. Die Sonne brannte mir in den Nacken, während der Staub sich in meinen Schuhen sammelte.

Der Himmel glühte schon leicht orange, als ich die Straße hinunterkam, die zum alten Hafen führte.
Dort, wo das Meer flach atmet.

Ich landete an der Betonplatte, auf der ich früher oft gesessen hatte.
Der Ort, an dem sich die Zeit langsamer bewegte.
Hier roch es immer nach Salz, Fisch und dem Qualm der rauchenden Fischer, die sich ihre Geschichten erzählten.
Der Wind zerrte an meiner Jacke, Möwen kreischten über mir wie streitende Geister.
Ich ließ mich fallen, die Knie angezogen, die Arme darum geschlungen.

Ich blieb dort sitzen, bis die Sonne tief über dem Wasser hing, als würde sie kurz durchatmen vor dem Untergang.
Die Schule war mir für heute egal - "Genug von Miss Augustin" dachte ich mir.
Erst jetzt zu später Stunde hatte ich den Mut gefasst und stand auf. Rosalie war längst zu Hause.

Der Weg zu ihrem Haus führte durch ein ruhiges Viertel mit pastellfarbenen Fassaden und Verandas, auf denen Kinder in alten Plastikstühlen lümmelten.
Musik wehte von irgendwo her – eine träge Melodie, die mit dem Wind spielte.
Hunde bellten in der Ferne, und aus einer Küche stieg der Duft von frittierten Teigtaschen in die Luft.
Ich kannte diesen Weg – bin ich ihn doch schon häufig in der Dunkelheit gegangen, wenn ihre Eltern längst schliefen.
Heute sollte es anders sein. Heute sollten sie mich sehen.

Schließlich stand ich vor ihrer Tür.
Ich hatte einen Kloß im Hals. Ich wusste, wie ich aussah: schlaksig, verschwitzt, irgendwie… fehl am Platz.

Als ich klopfte, öffnete sich die Tür im Bruchteil einer Sekunde, und Rosalies Mutter trat mit einem breiten Grinsen hervor.
Ich versuchte, ihrem prüfenden Blick standzuhalten – doch er hellte sich schnell auf und wechselte in einen wärmeren, freundlichen Blick und sie sagte vergnügt:
„Na, du musst also Johnathan sein.“
Ich nickte schüchtern und lächelte. „Ja, Ma’am.“
„Rosalie hat viel von dir erzählt. Komm rein.“
Ihre Stimme hatte einen schönen Klang und war von nun an sehr herzlich - und sie duftete nach Vanille. Ich mochte sie sofort.

Ich trat ein und erblickte sogleich ihren Vater, Mr. Bradshaw, der sich aus seinem „Chefsessel“ wuchtete und mich ebenfalls musterte.
Natürlich war der Sessel perfekt auf den Fernseher ausgerichtet und man sah bereits an der Verformung der Sitzfläche, dass dies wohl schon lange Zeit sein Lieblingsplatz war.
Ihr Vater war groß, breitschultrig – ein Berg von einem Mann. Schätzungsweise 1,90 m, 120 kg.
Er hatte eine Glatze, trug ein ausgewaschenes Trikot der Cayon Rockets und Shorts, die schon bessere Tage gesehen hatten.
Er trat zu mir, reichte mir die Hand.

„Mit dir treibt sich also meine Tochter rum? Name?“ fragte er trocken.
„Johnathan Whitecliffe, Sir.“ antwortete ich klar und deutlich.
„Timothy“, grunzte er. „Und kein Sir. Du gehörst ja wohl bald zur Familie.“
Er lachte – nicht laut, aber von Herzen.

„Deine Eltern sind aus England hergekommen, stimmt's?“, fragte er abschätzend.
Ich nickte.
„Ja. Aber ich bin hier geboren und aufgewachsen.“
Ein kurzes Nicken, dann ein kleines Lächeln.
„Dann bist du also einer von uns.“, stieß er nun sichtlich gelöster hervor.

Wir aßen zusammen.
Irgendwas mit Fisch – gegrillt, mit einer scharfen, orangefarbenen Soße, die einem erst beim dritten Bissen Tränen in die Augen trieb. Dazu gab’s Kochbananen, Salat mit Limettendressing und süßes Brot, das nach Rosmarin und Zucker schmeckte.
Ich hatte keinen Bissen bereut.

Wir saßen auf der überdachten Veranda. Der Ventilator summte leise über uns, eine einzelne Glühbirne flackerte leicht. In der Ferne zirpten Grillen, aus dem Radio im Haus klang dumpf Reggae von einem alten Sender und irgendein Halbstarker musste wieder allen in der Nachbarschaft den tollen Sound seines 25km/h Mopeds zeigen.

Wir redeten den ganzen Abend.
Über Fußball – Mr. und Mrs. Bradshaw waren natürlich Fans der Cayon Rockets, er erzählte von glorreichen Spielen im Warner Park, auch wenn sie meistens verloren hatten. Über Wetter – die Hitze, die Feuchtigkeit, den letzten Tropensturm. Über Schule, übers Leben.

Ich war überrascht, wie schnell ich mich wohlfühlte.
Wie leicht es plötzlich war, nicht mehr zu denken, sondern einfach zu reden.
Rosalie hatte sich neben mich gesetzt, barfuß, mit angezogenen Beinen, ein Glas Saft in der Hand. Irgendwann, es war schon längst dunkel geworden, sagte sie fast beiläufig:
„Weißt du, meine Freundin Grace hat mit neunzehn ihr erstes Kind bekommen.“
Ich sah sie an, ihre braunen Rehaugen glitzerten
„Und ich fand das immer irgendwie… schön. Ich mein, früh Kinder haben, Familie, das Leben teilen.“
Ich lächelte nur. Ein bisschen überrascht war ich schon, waren wir doch nicht einmal 18 Jahre alt.
„Ich mag Kinder.“ sagte ich um der peinlichen Stille zu entgehen.
Das stimmte sogar. In der Theorie.
In Wahrheit wusste ich: Ich war noch viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt und konnte keine Verantwortung für ein kleines Lebewesen übernehmen.
Ich war nicht bereit. Noch nicht. Vielleicht nie.

Aber ich sagte das nicht.
Manchmal reicht ein Lächeln, um Dinge unausgesprochen zu lassen.

Am Ende des Abends hatte mich Timothy ins Herz geschlossen – das spürte ich.
Er war kein Mann vieler Worte, aber er klopfte mir auf die Schulter, füllte mir ungefragt ein weiteres Glas Rum ein und sagte mit einem Zwinkern:
„Gar nicht so übel, der Junge.“

Wir waren nicht dieselben.
Aber wir verstanden uns.


 
Warner Park (Links Fussball, rechts Cricket) 3500 Plätze im Fussballstadion

Heimspielstätte der Cayon Rockets

« Letzte Änderung: 05.Juli 2025, 00:58:49 von steffanovic »
Gespeichert
*13.Dezember 2009©

steffanovic

  • Greenkeeper
  • *
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #3 am: 05.Juli 2025, 00:10:08 »

Prolog 1.0



Zwölf Jahre später





Ich hasse Flughäfen. Dieses künstliche Licht, das nie ganz Tag und nie ganz Nacht ist. Diese endlosen Schlangen, das nervöse Rascheln von Tickets, das ständige Piepen irgendwo.
Und trotzdem saß ich wieder in einem. Zwangsläufig.
Ich wollte mal wieder nach Hause – etwas abschalten von der Großstadt, der Arbeit, den Menschen. Ganz allgemein.
Das war es schließlich, was mir all die Jahre immer wieder Kraft gegeben hatte und meinen Akku auflud: die Sonne, der Strand, das Meer. Und natürlich Muttis Essen – das war sowieso das beste.
Der dauernde Regen in England hatte mir über die Jahre doch ziemlich zugesetzt – war ich es doch von Kindesbeinen an gewohnt, im Jahr nie weniger als 25 °C zu haben.
Zu dieser Jahreszeit hatte man Glück, wenn es in London überhaupt zweistellig wurde.

Nach dem Abi hatte ich in England studiert – Sportwissenschaften, dann Fusballmanagement und Datenanalyse , und irgendwie hatte sich daraus eine Laufbahn ergeben, die man wohl als „amateurhaft“ bezeichnen konnte.
Ich hatte bei ein paar semi-professionellen Clubs hospitiert – Sixth Tier, Seventh Tier.
Ich war der Typ mit der Mappe, der Statistiken manuell trackte, Gegner analysierte und Taktiken entwarf – während andere sich fragten, warum der Typ das alles für ’n Appel und ’n Ei plus Kost und Logis machte.
Es war nicht glamourös. Aber es war echt.
Trotz der vielen Belobigungen, wie gewissenhaft ich meine Arbeit doch erledigen würde und wie gut meine taktischen Ideen seien – umgesetzt hat man sie nie.
Geschweige denn, man hätte es ernsthaft in Erwägung gezogen, mir eine richtige Festanstellung zu geben.
Deswegen habe ich beschlossen, meinen letzten "Vertrag" zum Ende des Jahres auslaufen zu lassen – und über Weihnachten erstmal wieder nach Hause zu fahren.

Und hier war ich nun: Gerade aus London gelandet, durfte ich mich mal wieder in einem der von mir nicht favorisierten Flughäfen in den USA aufhalten und auf meinen Anschlussflug warten.
Dritter Kaffee. Terminal 5. Es war laut, schlecht klimatisiert und zu viel von allem. Zu viele Koffer, zu viele Schlangen, zu viele schlecht gelaunte Servicemitarbeiter – und auch zu viel Wartezeit.
Ich hatte vier Stunden Aufenthalt, bis es weiterging nach Basseterre. Der Anschlussflieger war ein klappriges Propellerflugzeug, das seine beste Zeit schon lange hinter sich hatte.
Wahrscheinlich brauchten sie die vier Stunden, um das Teil überhaupt wieder startklar zu bekommen.
Aber was soll's. Ich war die Route schon mehrfach geflogen – auch mit noch schlechteren Maschinen.
Bis jetzt hat es immer geklappt.
Nur hoffentlich sitze ich nicht neben Dickmobs da drüben, der gerade mit seinem offensichtlich viel zu schweren Koffer versucht, die Dame am Schalter davon zu überzeugen, dass er das wohl „immer so“ mache und noch nie extra Gebühren habe zahlen müssen. Interessierte die Dame offensichtlich nicht – denn Mopsi wuchtete seinen Koffer von der Waage auf den Fliesenboden, öffnete ihn und fing an, Süßigkeiten auszusortieren, die wohl hierbleiben müssten.
Er hatte sichtlich Probleme, sich zu entscheiden, und fing hörbar an, vor sich hin zu schimpfen:
„– Keene Kulanz, Kunde is König, dat soll the land of oppatuniti sein...“ hörte man ihn berlinern.
Guck an – ist gar kein Amerikaner, sondern ein prall gefüllter Berliner, lachte ich in Gedanken.

Meine Mutter hatte gesagt, dieses Weihnachten müsse ich unbedingt kommen.
„Du darfst das nicht aufschieben, Johnathan. Es ist wichtig.“
Was genau sie damit meinte, hatte sie nicht gesagt. Und ich hatte nicht nachgehakt.
Eigentlich feierten wir Weihnachten gar nicht großartig. Die Schokolade bekomme ich ein paar Wochen später zum halben Preis – und Bäume im Haus gibt’s bei uns auf der Insel sowieso nicht.
Also saß ich nun hier. Zwischen amerikanischen Familien mit zu vielen Kindern, schlafenden Backpackern, dem Berlinerchen und einem Plastikbecher lauwarmen Kaffees.

Ich war in den letzten Jahren häufiger nach Hause gekommen. Nicht oft, aber regelmäßig.
Meist für eine Woche, manchmal auch nur fürs Wochenende.
Meine Mutter war nie jemand gewesen, der viel verlangte – aber diesmal klang es anders.
Nachdrücklicher.

Ich starrte auf die digitale Anzeigetafel, während mein Kopf sich langsam entrollte wie ein alter Film.

Ich zuckte kaum, als der Name meines Fluges über die Lautsprecher dröhnte:
„Letzter Aufruf für den Flug nach Basseterre. Letzter Aufruf.“
Ich muss wohl doch eingenickt sein.

Im Flieger roch es nach altem Stoff und warmer Luft. Die Propeller begannen zu kreischen, als hätte jemand sie beleidigt.
Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen.
Ich hatte keinen Sitznachbarn – man muss auch mal Glück haben.



Noch zwei Stunden bis zu meiner Insel.
Noch zwei Stunden bis zur Antwort auf eine Frage, die ich noch gar nicht gestellt hatte.


« Letzte Änderung: 05.Juli 2025, 01:36:47 von steffanovic »
Gespeichert
*13.Dezember 2009©

steffanovic

  • Greenkeeper
  • *
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #4 am: 06.Juli 2025, 03:50:35 »

Prolog 1.1






Landeanflug auf Basseterre





Die Propeller kamen klackernd zum Stillstand, während sich die Kabinentür des kleinen Flugzeugs langsam öffnete.
Keine Gangway, kein Tunnel – stattdessen eine klapprige Metalltreppe direkt aufs Rollfeld.
Ich trat aus dem Flieger und wurde sofort von einem Schwall heißer Luft empfangen – salzig, feucht, schwer.
Die Klimaanlage im Flieger hatte mich träge gemacht, meine Klamotten klebten an der Haut, und mein Hirn hinkte mir zwei Schritte hinterher.

Die Sonne brannte, als hätte sie vergessen, dass es Dezember war.
Normalerweise ist das die beste Zeit des Jahres – Trockenzeit in der Karibik.
Tagsüber klettert das Thermometer regelmäßig auf 27 Grad, nachts sinkt es kaum unter 22. Der Himmel: wolkenlos. Das Meer: warm wie eine Badewanne.
Und Regen? Gab’s höchstens als Gerücht. Der Dezember auf St. Kitts war eine klimatische Urlaubspostkarte – aber für mich war es Heimat.
Heute jedoch war selbst mir ungewöhnlich warm – vielleicht lag es am Wetterwechsel oder daran, dass ich es einfach nicht mehr gewohnt war.

Eigentlich mochte ich die Hitze. Schon immer.
Sie gehörte zu mir wie das Salz in der Luft oder das Kratzen von Sand unter den Fußsohlen.
Während andere stöhnten und nach Schatten suchten, atmete ich auf – und stellte fest, dass ich meine eine Softshelljacke noch anhatte.
Sie war weich, grau, winddicht – britisches Understatement in Textilform. Ich streifte sie hastig ab und schulterte mein Handgepäck.

Der heiße Asphalt glänzte, während ich über das Rollfeld Richtung Terminal schlenderte.
Ein Mitarbeiter in gelber Weste schob wortlos einen Gepäckwagen an mir vorbei. Ich nickte ihm zu und steckte ihm ein paar Dollarnoten in die Hand.
Sein junges, wenn auch bereits gezeichnetes Gesicht hellte sich auf.
Auch wenn die offizielle Währung der Ostkaribische Dollar war, wurde der amerikanische trotzdem lieber gesehen.
Er lächelte – eine Reihe schneeweißer Zähne mit ein paar Lücken blitzte auf.

Der Luftdruck fühlte sich schwer an – wie ein feuchter, warmer Mantel.
Aus dem nahen Gebüsch zirpten die Zikaden, laut und unermüdlich, als hätten sie nie aufgehört seit meinem letzten Besuch.
Dieses Geräusch war für mich das akustische Gegenstück zum tropischen Licht – grell, lebendig, unausweichlich.

Willkommen zu Hause
.

Der Flughafen von Basseterre – benannt nach Rosalies Urgroßvater, wie ich vor vielen Jahren erfahren hatte – war, sagen wir mal: übersichtlich.
Keine riesigen Werbebildschirme, keine Luxusshops, keine Anzugträger auf Rollkoffern. Nur ein flaches Gebäude, ein paar Palmen und ein rostiger Zaun am Ende des Rollfelds.


Robert L. Bradshaw International Airport

Ich trat durch die offensichtlich defekten Schiebetüren, die dauerhaft offen standen – vermutlich, weil niemand mehr Lust hatte, sie reparieren zu lassen.
Drinnen war es noch wärmer und stickiger als draußen.
Ich stellte mich ans Gepäckband, das mit bedächtig klappernden Metallstreben in gefühlter Zeitlupe Koffer um Koffer herausrückte.
Das Gummikarussell quietschte bei jeder Umdrehung – als wollte es sich für jahrelange Vernachlässigung beschweren.

Natürlich kam mein Koffer als Letzter.

Draußen stand ein halb verrosteter, roter Toyota-Pick-up mit einem kaputten Rücklicht in der Sonne. Auch er war eher Arbeitstier als Schönheitskönigin.
Daneben: meine Mutter. Barfuß. In einem blumigen Leinenkleid.
Sie winkte, als hätte sie mich gestern erst gesehen. Ich musste grinsen.



Schönheitskönigin?



„Johnathan!“, rief sie. „Willkommen daheim, mein Schatz!“
Sie grinste ebenfalls und schloss mich in ihre Arme.
„Lass dich mal ansehen… Du musst essen, mein Junge, sonst fällst du noch vom Fleisch“, sagte sie – wie auch bei den letzten drei Malen.
Und doch hatte ich jedes Jahr ein paar Kilo draufgepackt.

Ich warf den Koffer auf die Ladefläche, stieg ein und ließ mich in den heißen Sitz sinken der mir fast den Hintern verbrannte.
Der Geruch nach Kokosnussöl und alter Polsterung stieg mir in die Nase.

Das Auto war noch dasselbe wie damals.                                                                         
Der rote Lack blätterte ab wie bei einem schlecht lackierten Modellauto, die Beifahrertür quietschte wie eine beleidigte Gans, und der Anlasser hatte diese typische T-Zündung, bei der man nie wusste, ob man gleich losfährt oder gleich explodiert.

„Du siehst blass aus“, sagte sie und startete den Motor.

„England“, antwortete ich. „Dort ist Wärme ein Gerücht.“

„Du fährst das Ding immer noch?“
„Der fährt besser als du denkst.“

Röhr–röhr–klack–klack...
„Aha.“

Sie lachte – und ich wusste: Ich war wirklich zurück.

Die Straße vom Flughafen war wie immer voller Schlaglöcher, und der Pick-up holperte über den Asphalt, als wolle Mutter testen, ob er noch offroad-tauglich war.
Die Fenster waren offen. Der Fahrtwind roch nach Meer, Auspuff, Zuckerrohr – und natürlich irgendetwas Gebratenem.

„Du bleibst diesmal ein bisschen länger, ja?“
„Kommt drauf an.“
„Worauf?“
Ich sah sie an.
„Worauf du diesmal hinauswillst.“

Sie sagte nichts. Aber ich sah, wie sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen stahl.

Die Reifen surrten über den warmen Asphalt, Palmen rauschten am Rand vorbei und im Radio lief Cayon Caribbean FM.
Ein heiserer Moderator nuschelte irgendetwas in Patois, dann setzte ein steelpan-getränkter Reggae-Beat ein – rhythmisch, weich, ein bisschen zu laut.
Das alte Blech vibrierte mit jedem Takt, als wäre das Auto selbst der Bassverstärker.

Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen für einen Moment.
„Du siehst ja ganz hungrig aus“, sagte sie grinsend.
„Bin ich auch.“
„Tja. Ich koch heut nix.“
Ich riss die Augen wieder auf.
„Was?! Ich hab seit zwei Tagen nichts Richtiges gegessen.“
„Dann wird’s Zeit, dass du mal wieder was Gescheites bekommst. Wir essen bei den Bradshaws.“
Ich stöhnte. Laut.
„Jetzt? Ich hatte im Flugzeug einen Apfel, der nach Seife schmeckte, und einen Müsliriegel, der so trocken war, dass ich erst dachte, der wäre aus dem letzten Jahrhundert.“
„Dann freu dich. Bei Rosalie gibt’s bestimmt was Warmes.“
„Rosalie?“
Sie antwortete nicht. Stattdessen bog sie in die alte Seitenstraße ein, wo die Telegrafenmasten schief standen und jedes zweite Haus neue Farbe nötig hatte.
Ich erkannte fast jedes davon – als wäre ich nur ein paar Wochen fort gewesen.

Die Sonne stand tief, das Licht wurde goldener. Zikaden zirpten wieder um die Wette.
Als wir ums Eck bogen, sah ich das Bradshaw-Haus.
Noch immer dieses auffällige Türkis. Noch immer dieselbe hölzerne Veranda mit dem durchhängenden Moskitonetz und der klapprigen Hollywoodschaukel.
Und auf der Veranda stand sie.
Sichtlich gealtert, in einem fleckenübersäten weißen T-Shirt und einem blau gemusterten Rock –
und doch hübsch wie eh und je: Rosalie. Ihre schokobraune Haut glänzte leicht in der Abendsonne. Die dichten Locken hatte sie zurückgebunden, einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht.

Barfuß, einen Lappen in der einen Hand – der wohl gerade noch ein Fenster bearbeitet hatte – und auf dem anderen Arm ein Baby, das gerade ziemlich erfolglos versuchte, aus einer halb durchsichtigen, grünen Nuckelflasche das begehrte Innere herauszunuckeln.
Neue Flecken bildeten sich auf ihrem T-Shirt, doch dafür hatte sie in diesem Moment keinen Blick.
Sie hielt inne, sah das Auto, und ihr Blick blieb an mir hängen.

Ich schluckte.
Zehn Jahre.
Zehn Jahre waren verdammt lange für ein einfaches „Hallo“.

„Na du“, sagte sie.

Ihre Stimme klang nicht anders als früher – ein wenig rauer, ein wenig zu laut, und trotzdem voller Wärme. Als hätte sie auf mich gewartet. Nicht heute. Immer.

„Hey“, brachte ich heraus, und meine Stimme war plötzlich zehn Jahre jünger. Ich fühlte mich auch so.
Ich trat auf die Veranda. Der Holzbohlenboden knarzte unter meinen Füßen. Ich roch Seife, Zimt – und etwas, das nach Kind roch: milchig, warm, chaotisch.
Rosalie musterte mich einen Moment lang. In ihren Augen lag eine Mischung aus Überraschung, Müdigkeit – und ein winziger Rest von dem, was früher einmal zwischen uns gewesen war.

Im Wohnzimmer lief ein Ventilator, der mit jedem Umdrehen klackerte wie ein alter Projektor. Die Vorhänge bewegten sich im Luftzug, der nicht ausreichte, um die Hitze aus dem Raum zu vertreiben.

Dort saß Mr. Bradshaw.

„Johnathan“, sagte er knapp, aber nicht unfreundlich. Die Stimme rauer als früher, das Haar grauer, der Blick aber noch immer scharf wie Machetenstahl.

„Timothy“, nickte ich zurück.

Ich trat ein. Ich wusste inzwischen: Er war nicht nur Rosalies Vater.
Sein eigener, politisch einflussreicher Vater hatte ihn damals – kurz vor seinem Tod – als Präsident der Cayon Rockets installiert, um den Verein vor der Insolvenz zu bewahren.
Jenen kleinen, ehrgeizigen Klub, den ich früher als Junge mit pochendem Herzen vom staubigen Hügel aus verfolgt hatte. Immer mit schmutzigen Knien, verschwitztem Shirt und einer Tüte Tamarindenbonbons in der Hand.

Wir aßen zusammen auf der Veranda. Der Tisch war aus hellem Holz, wackelig, aber voller Farben. In einer matten Schüssel dampfte ein scharfer Huhn-Eintopf – so würzig, dass meine Lippen bereits vor dem ersten Bissen leicht zu kribbeln begannen.
Dazu Süßkartoffeln, gegrillt und mit Limettenschale bestreut. Und ein Salat mit Mango, roten Zwiebeln und irgendetwas Undefinierbarem, das so scharf und süß zugleich war, dass mir beinahe die Tränen kamen. Nicht wegen der Zwiebeln.

Wir redeten über London. Über das Wetter. Über Flugverspätungen.
Rosalie ließ das Baby bei ihrer kleinen Schwester – die, wie ich jetzt erst bemerkte, im Nebenzimmer saß und zwei identisch aussehende Babys in den Schlaf wiegte – und brachte stattdessen frischen Eistee. Es war eine dieser Mahlzeiten, bei denen alle wussten, dass noch etwas kommen würde – aber niemand den Anfang machen wollte.

Dann, irgendwann, lehnte sich Mr. Bradshaw zurück und ließ seinen Nacken von einer zur anderen Schulter kreisen. Es knackte ungesund. Seine Ellenbogen ruhten auf dem Tisch, seine Stimme wurde tiefer.

„Du hast bestimmt mitbekommen, dass wir abgestiegen sind.“

Er sagte es, als sei es ein persönlicher Verrat – nicht nur ein sportliches Versagen.

Ich runzelte die Stirn. „Was? Abgestiegen?“

„Ich dachte, du hättest dich mal informiert.“

„Ich dachte, du hättest mir sowas gesagt“, entgegnete ich entrüstet.

„Ich musste arbeiten“, erwiderte sie, verdrehte leicht die Augen und schüttelte nur unmerklich den Kopf.

Timothy schob seinen Teller zur Seite.

„Deine Mutter hat erzählt, was du in England gemacht hast. Studium, Praktika bei gar nicht so unbekannten Vereinen – aber keine Festanstellung.“
Er sah mir direkt in die Augen.
„Und ich erinnere mich noch genau, wie du früher auf dem Hügel saßt, um einen besseren Blick auf das ganze Spielfeld zu bekommen.
Man muss auch mal aus einem anderen Blickwinkel schauen‘ – hast du schon als kleiner Knirps gesagt.“


„Ich war sechzehn“, warf ich ein.

„Du hast nicht einfach nur geguckt – du hast gelesen. Spielverläufe, Schwächen, Muster.“
„Der letzte Trainer hat gedacht, er wär hier im verdammten Ferienlager.
Hat einmal die Woche ein Lauftraining angesetzt und Motivationssprüche vom Band geleiert, die kein Mensch ernst genommen hat – statt die Spieler wie Vollprofis zu behandeln.
Keine Gegneranalyse, keine Videoauswertung, keine GPS-Westen. Und wenn einer mal gefragt hat, ob wir auch mal mit dem Ball trainieren, wurde er ignoriert oder gleich auf die Bank gesetzt.“


Vollprofis und GPS-Westen in einem semi-professionellen Verein – ja, ne, ist klar, dachte ich. Sagte aber nichts.

Er nahm einen tiefen Schluck Wasser und fuhr mit erhobener Stimme fort:

„Und dann dieses Rumgeeiere vor der Presse! Als ob wir hier am Tabellenende rumdümpeln wollen. Ich hab ihn gefragt, wo zur Hölle er glaubt, dass wir hier sind – da sagt der: ‚Das ist nicht meine Baustelle, nicht meine Insel.‘
Nicht seine Baustelle, wer bezahlt ihn denn bitteschön?!
Die letzten Jahre waren wir konstant dritte oder vierte Kraft im Land – hinter St. Paul’s United, St. Peter’s FC und den Village Superstars.
Und jetzt kommt so ein Neffe vom Sportdirektor und meint, ihm hätte vor der Saison niemand gesagt, dass wir überhaupt sportliche Ziele hätten!“




Ich dachte: Eigentlich alles wie immer. Nur hat es diesmal hatte der Trainer wohl gar keine Ahnung und es hat nicht mehr gereicht nur so zu tun als ob.
Irgendwann fällt der ganze Müll eben auf. Laut sagte ich nichts.

Timothy lehnte sich vor, Ellbogen auf den Tisch, die Stirn voller Falten.

„Versteh mich nicht falsch – dass er der Neffe vom Sportdirektor war, wusste ich. So läuft das hier eben. Aber ich dachte, er hätte Ahnung. Zumindest hatten sie’s mir so verkauft.
Vielleicht hab ich die Zügel etwas schleifen lassen. Aber das ist jetzt vorbei.“

Er dampfte förmlich vor Wut, beruhigte sich dann aber ein wenig und fuhr bestimmt fort.
„Ich greife wieder selbst ins Geschäft ein. Der Trainer hatte keinen Draht zur Mannschaft, keinen Draht zur Insel, keinen Respekt vor dem, was wir hier aufgebaut haben.
Es geht nicht nur um Fußball. Es geht darum, unser Dorf in einem besseren Licht zu zeigen und die Hauptstadtklubs ärgern.
Darum, was du den Jungs mitgibst, wenn sie vom Platz gehen. Wie du sie besser machst. Wie du ihnen das Gefühl gibst, dass sie für etwas spielen, das größer ist als sie selbst.“

Stille.

„Du hast das mal verstanden. Auch wenn du damals noch ein kleiner Hosenscheißer warst mit mehr Sonnenbrand als Ahnung – du hast verstanden, was hier zählt.“

Jetzt ging er zu weit, dachte ich. Aber ich traute mich nicht, ihm ein weiteres Mal ins Wort zu fallen.
Ich sah zu Rosalie. Sie schaute weg.

Mr. Bradshaw trank sein Glas in einem Zug leer. Diesmal war es jedoch kein Wasser, sondern Selbstgebrannter den er sich kurz zuvor aus einer nicht etikettierten Flasche eingegossen hatte.
Er verzog keine Miene und stellte das Glas mit einem dumpfen Klang auf den Tisch. Er hatte sofort wieder meine volle Aufmerksamkeit.

„Wir haben den Trainer entlassen. Und den Sportdirektor gleich dazu. Die Jungs brauchen Struktur, neue Inspiration – und jemanden, der die Gepflogenheiten hier kennt. Und es ernst meint.
Ich glaube, du hast das im Blut.“


Ich hatte das Gefühl, dass sich alle Augen auf mich richteten. Ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte.

Dann sagte er es.

„Ich will, dass du den Verein übernimmst.“

Ich lachte. Kurz. Ein bisschen zu laut. Es klang falsch.

„Du meinst das ernst?“

Er nickte. Langsam. Die Stirn leicht gerunzelt – wie jemand, der seine Entscheidung nicht verkaufen will, sondern einfach ausspricht, wie sie ist.

„Wir brauchen frischen Wind. Und du gehörst hierher. Du kommst von hier.“

Ich drehte den Kopf zu meiner Mutter. Sie sagte nichts. Aber sie sah mich an, wie nur Mütter einen ansehen können, wenn sie hoffen, dass man das Richtige tut.
„Ich… ich muss eine Nacht drüber schlafen“, sagte ich – ein wenig überfordert.

Keiner widersprach. Doch Mr. Bradshaw wirkte leicht verärgert. Schließlich bekam man nicht jeden Tag das Angebot, Trainer seines Heimatvereins zu werden – schon gar nicht als Neuling.

Der Ventilator klackerte weiter. Für einen Moment war es vollkommen still. Draußen zirpten die Zikaden.

„Na, dann wollen wir mal“, durchbrach meine Mutter die peinliche Stille.
Alle standen gleichzeitig auf – wie zum Appell.

„Danke für das tolle Essen“, sagte ich. „Schön, euch mal wieder gesehen zu haben.“
Ich blickte erst zu Rosalie, dann zu Mr. Bradshaw.

An der Tür umarmte ich Rosalie ein letztes Mal. Sie roch nach Vanille – wie ihre Mutter damals.
Sie fehlte uns allen.

Auf dem Heimweg sprachen wir kaum. Ich hielt meine Hand aus dem offenen Fenster und fing damit die Abendluft ein.
Es war angenehm abgekühlt. Und ich war hundemüde.
Überrascht, verwirrt, ein wenig geschockt – aber hauptsächlich müde.

„Wir sind da“, sagte meine Mutter, als sie in die Einfahrt einbog und mich aus meinem kurzen Halbschlaf weckte.
Der Kies knirschte unter den Reifen, das Haus lag still in der Dämmerung.
Eine Lampe über der Tür summte leise und lockte ein Dutzend Motten an.
Sie schlug die Fahrertür etwas unsanft zu, und ich zuckte zusammen – wie aus einem Traum gerissen.

Ich stieg aus, nahm meinen Koffer aus dem Wagen und schleppte ihn mit letzter Kraft ins Haus.
Drinnen war es dunkel. Keiner von uns machte das Licht an – „Um kein Viehzeug anzulocken“, wie Mutter immer sagte.
Ich brauchte auch keins. Alles war noch an seinem Platz. Genau wie beim letzten Mal.

Den Koffer ließ ich im Flur stehen. Ich taperte ins Schlafzimmer und fiel einfach auf die Matratze – noch angezogen, verschwitzt, der Kopf brummte.
Ich hatte es nur noch geschafft die Schuhe auszuziehen.


Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war mein Zimmer schon taghell. Für einen Moment dachte ich, ich hätte bis mittags geschlafen – die Luft roch schon wieder nach Hitze.

Ich spritzte mir am Waschbecken etwas Wasser ins Gesicht, machte mich notdürftig frisch und trottete in die Küche.
Dort stand der erste Kaffee des Tages – viel Milch, viel Zucker. Wie immer. Nice and Sweet. Diese Gewohnheit hatte ich selbst in England nie abgelegt.
Und trotzdem waren meine Blutzuckerwerte in Ordnung, zum Unverständnis des testenden Arztes.

„Zigaretten“, murmelte ich. Wo waren meine Zigaretten?
Ich hatte seit dem Aussteigen aus dem Flugzeug keine mehr geraucht dämmerte es mir plötzlich. Jetzt machte sich das deutlich bemerkbar – ich war nervös, fahrig, innerlich unruhig.
„Meine zweite, noch ungesündere Gewohnheit – die alten Sargnägel – hatte ich bisher auch nicht ablegen können. Ehrlich gesagt hatte ich es auch noch nie wirklich versucht.“

„Gut geschlafen?“, fragte meine Mutter, während sie eine Schüssel mit geschnittenen Papayas auf den Tisch stellte.
Ich nickte nur und betrachtete meine Haare in der Spiegelung des Fensters. Ich sah aus, als hätte mich ein tropischer Sturm getroffen – oder als hätte ich mit dem Finger in der Steckdose geschlafen.

„Und? Sag jetzt nichts Falsches. Timothy ist schon ganz nervös“, sagte sie mit einem Lächeln, das mehr verriet, als es sollte. Sie versuchte, es beiläufig klingen zu lassen – aber ich hörte die stille Hoffnung in ihrer Stimme.

Ich zuckte mit den Schultern.
Ich konnte es selbst kaum glauben, was da gestern passiert war. Ich – Trainer? Dass ich nicht lache.
Aber wenn ich ehrlich bin: Genau das war doch eigentlich schon immer mein Ziel. Vielleicht nicht hier. Vielleicht nicht bei den Rockets.
Aber dafür hatte ich England doch überhaupt erst auf mich genommen, dafür hab ich doch für einen Hungerlohn hospitiert, dafür hatte ich doch alles gelernt, was man wissen musste.
Vielleicht war genau das der Punkt. Vielleicht musste ich zurück zu meinen Wurzeln und hinaus in die Welt zu kommen, vielleicht würde sich hier eine Karriere ergeben, vielleicht müsste ich einfach nur die Gelegenheit ergreifen.

„Ich fahr erstmal zum Trainingsgelände. Vielleicht ist ja noch jemand da, den ich kenne“
, sagte ich schließlich.

Ich nahm einen Schluck vom Kaffee, stellte die Tasse ab und warf einen Blick auf die Uhr. 9:45 Uhr. Wenn sie heute trainierten, musste ich mich sputen.

„Na dann sieh zu, dass du noch rechtzeitig hinkommst, sonst sind sie schon fertig, wenn du auftauchst“, rief meine Mutter hinter mir her.
„Und iss was, mein Junge – sonst fällst du mir noch vom Fleisch. Ich mach dir schnell was zum Mitnehmen, während du dich fertig machst.“

Ein Grinsen huschte über mein Gesicht.
Klasse. Erster Urlaubstag – und schon wieder im Stress.
Ich sprang unter die Dusche, schnappte mir mein Zeug, gab meiner Mutter einen Kuss auf die Wange und und ließ nur noch eine Staubwolke zurück.
Ich hatte keine Ahnung, dass ich in einer Stunde nicht nur alten Bekannten wiedersehen würde – sondern auch vor einer Entscheidung stand, die alles verändern könnte.
« Letzte Änderung: 06.Juli 2025, 04:39:26 von steffanovic »
Gespeichert
*13.Dezember 2009©

Signor Rossi

  • Researcher
  • Weltstar
  • *****
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #5 am: 06.Juli 2025, 08:27:14 »

Die Story gefällt mir ausgesprochen gut, bitte weiter so!
Gespeichert

Karagounis

  • Nationalspieler
  • *****
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #6 am: 06.Juli 2025, 10:25:08 »

Sehr schön geschrieben und schöne exotische Station! Das werde ich gerne verfolgen!

MorbusDerbe

  • Greenkeeper
  • *
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #7 am: 06.Juli 2025, 11:00:15 »

Bis hierhin klasse. Gefällt mir auch sehr in der Ausführlichkeit! Werde sehr sicher dabeibleiben. Bitte weiter so!!
Gespeichert
Nur der HSV!

steffanovic

  • Greenkeeper
  • *
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #8 am: 06.Juli 2025, 15:09:39 »

@Signor Rossi, @Karagounis, @MorbusDerbe

Vielen lieben Dank euch allen – freut mich wirklich sehr, dass euch der Einstieg gefallen hat! 
Gerade zu Beginn ist so ein Feedback enorm motivierend, vor allem, da ich mir ehrlich gesagt nicht sicher war, ob der gemächliche Aufbau überhaupt jemanden anspricht. 
Bisher gab’s ja eher tropische Selbstfindung als Taktiktafel, und mit Ball ist auch noch nicht viel passiert. 😅 
Umso schöner, dass ihr trotzdem dranbleibt!

Ich hoffe, die kommenden Teile treffen weiterhin euren Geschmack. 
Danke euch – und bleibt mir gewogen! 👋
Gespeichert
*13.Dezember 2009©

MorbusDerbe

  • Greenkeeper
  • *
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #9 am: 06.Juli 2025, 15:31:50 »

Ich denke gerade wegen des gemähchlichen Aufbaus mag' ich die Story bis dato.
Mir gibt das auch 'ne andere Bindung zum Charakter der Story, wenn man weiß mit wem man da die Story erlebt.

Freue mich auf die nächsten Teile!  :)
Gespeichert
Nur der HSV!

Signor Rossi

  • Researcher
  • Weltstar
  • *****
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #10 am: 06.Juli 2025, 19:54:26 »

Geht mir auch wie MorbusDerbe. Das darf auch gerne so weiter gehen, ich persönlich lese so eine Story lieber als mir viele Screenshots anzusehen.
Gespeichert

steffanovic

  • Greenkeeper
  • *
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #11 am: 06.Juli 2025, 22:02:02 »

Prolog 1.2


Die Sonne stand schon etwas höher, als ich mich auf den Weg zum Stadion machte.
Im Auto roch es nach dem, was meine Mutter mir eingepackt hatte – zwei dick belegte Sandwiches auf süßlichem Maisbrot, mit gebratenem Hühnchen, scharfer Mango-Paste und ein paar Scheiben Avocado.
Nichts Aufwendiges, aber karibisch, sättigend und, wie immer, mit Liebe gemacht.

Ich bog auf die Landstraße Richtung Westen ab, schob das erste Sandwich aus der Alufolie und biss ab.

Es schmeckte wie Heimat. Knusprige Kruste, saftiges Fleisch, scharfe Süße.
Ich kaute langsam, versuchte, jeden Bissen zu genießen und jeden Geschmack einzeln zu erfassen.
Ein paar Minuten lang zählte nichts – nur dieses Brot, das ich in England nirgends bekommen hatte.
Klar, auch dort hatte ich karibische Restaurants ausprobiert – in Brixton, in Peckham, in einem winzigen Takeaway an der Holloway Road.
Ich hatte Jerk Chicken gegessen, Doubles, frittierten Fisch, weiches Bake – alles dabei.
Aber nichts davon schmeckte wie hier. Nicht so warm. Nicht so echt.
Und trotzdem hatte ich mir in London eine kleine Stammbar gesucht, gleich hinterm College.
Dunkle Ecken, klebrige Tische, kaltes Red Stripe. Der Koch kam aus Saint Lucia, der Barkeeper aus Antigua.
Wenn ich ein bisschen Heimweh hatte, ging ich dorthin.
Wir redeten über Zuhause. Über die Hitze, das Meer, die Politik und unsere Leute.
Ich nannte es meine kleine Zufluchtsinsel.

Die Straße war staubig, mit leichtem Gefälle. Zuckerrohr wuchs rechts und links, in ungleichmäßigen Reihen, vereinzelt standen kleine Häuser – aus Holz, Blech oder beidem.
Kinder spielten mit einem halbaufgepumpten Ball am Straßenrand.
Zwei Ziegen trotteten quer über die Fahrbahn. Ein Besitzer war weit und breit nicht zu sehen.
Ein LKW hupte mir entgegen, auf dessen Ladefläche mehrere Männer saßen – einer spielte auf einem rostigen Blecheimer im Rhythmus einer Melodie, die nur er hörte.

Ich fuhr durch den Kreisel beim Flughafen Richtung Innenstadt, weiter bis kurz vor das Vereinsgelände gegenüber vom Independence Square, und parkte unter einem schiefen Baum am Rand.
Dann griff ich zur letzten Hälfte meines zweiten Sandwiches und verspeiste es genüsslich. Ich ließ mir Zeit. Kein Grund für englische Hektik – auch das gehörte hier zum Lebensgefühl.


Independence Square



Ein Tourist hatte mich mal gefragt, wann der Bus komme, der ihn in die nächste Stadt bringen sollte. Laut Plan hätte er längst da sein müssen.
Ich hatte gegrinst und gesagt: „Er kommt, wenn er kommt.“
Der Mann dachte erst, ich wolle ihn veräppeln – bis ich ihm erklärte, dass es zwar Pläne gab, man aber nicht davon ausgehen sollte, dass diese auch eingehalten wurden.
Vielleicht war der Fahrer zum Mittagessen eingeladen worden. Vielleicht hatte er auch einfach einen Platten.
Der Mann fiel fast vom Glauben ab – war es in Europa doch üblich, dass das, was auf dem Plan stand, auch funktionierte.
Vielleicht mit Ausnahme der Deutschen Bahn.

Erst als ich fertig war, griff ich ins Handschuhfach. Zwischen alten Quittungen, einem Schraubenzieher und Sonnenbrillen fand ich, was ich suchte: Zigaretten.
Ich zündete eine an, zog tief und schaute dem Rauch nach, wie er vom Wind weggetragen wurde.
Für einen kurzen Moment war ich rundum zufrieden. Ausgeschlafen, gesättigt – und zuhause.
Nur der Rauch, die Hitze, das leise Brummen von Insekten.
Ich warf den Rest Alufolie in den Fußraum, schulterte meinen Rucksack und stieg aus.

Der Parkplatz vor dem Stadion war fast leer. Ein paar Fahrräder, ein Moped, ein rostiger Pickup.
Ich streckte mich kurz und ließ den Blick über das Gelände schweifen.

Das Vereinsgelände wirkte kleiner als in meiner Erinnerung – oder ich war einfach gewachsen.
Das Gras war von der Sonne braun gebrannt und teilweise trotzdem zu lang.
Die Kreidelinien waren blass und unsauber gezogen, auch die Tornetze waren ausgefranst – an einer Stelle fehlte sogar ein großer Teil.

Auf einer Seite grenzte der Platz fast direkt ans benachbarte Cricketfeld, auf der anderen stand die einzige „richtige“ Tribüne.
Die Farbe der türkisen Sitzschalen blätterte bereits ab. Man sah ihr an, dass sie viel erlebt hatte – Regen, Sonne, unzählige Hintern.
Dafür hatte die kleine Überdachung immerhin keine Löcher.

Daneben: eine zweite Tribüne. Etwas kleiner, ohne Dach. Sie musste neu sein – bei meinem letzten Besuch war sie noch nicht da.
Und doch passte sie sich jetzt schon an: verwittert, windschief, ein Teil des Ganzen.

Glanz? Fehlanzeige. Aber das Herz war da. Immer noch.
Ich nahm noch einen letzten Zug, drückte die Zigarette im Sand aus und machte mich auf den Weg zum Platz.




Warner Park Tribünen



Mr. Bradshaw saß schon auf einer der blauen Trainerbänke vor der Tribüne.
Ich erkannte ihn sofort an seinem Umriss – breit, ruhig, die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
Er hatte gewusst, dass ich kommen würde – er kannte mich schließlich schon über ein Jahrzehnt.
Ich hob den Arm zum Gruß.
Obwohl er es ahnte, sah man ihm eine gewisse Erleichterung an. Vielleicht freute er sich sogar ein wenig.

Wir begrüßten uns per Handschlag und wechselten ein paar Worte.
Ich fragte ihn, warum keiner der Spieler trainierte, und er meinte, er hätte erst einmal dafür sorgen müssen, das die Spieler überhaupt alle auftauchten.
Beim ehemaligen Trainer sei das „Training“ wohl zur freiwilligen Sache geworden.
Ich atmete schwer. Das konnte ja heiter werden.

Dann sah ich, wie zwei Kinderwagen um die Ecke bogen – und dahinter erkannte ich sie als Anschieberin: Rosalie.
Ein Baby auf dem Arm, zwei Kinder im Doppelwagen. Sie kam langsam näher und lächelte. Still. Kein Flirt, keine Romantik. Nur Wärme.
Wir umarmten uns kurz, und ich konnte mir nicht verkneifen zu sagen:
„Ich wusste gar nicht, dass das alles deine sind. Du warst ja ganz schön fleißig, während ich weg war.“
Wir mussten beide lachen. Es war ein gutes Lachen. Ein echtes.

Kurz darauf sah ich, wie ein relativ kleiner, aber drahtiger Mann aus dem Kabinengang kam – Jogginganzug, breite Brust, selbstbewusster Gang.
Ohne zu zögern ging er auf Rosalie zu, stellte sich neben sie und legte ein wenig besitzergreifend den Arm um sie.

Ich erkannte ihn sofort.

Mervin Lewis. Ein Terrier-Typ. Schon in der Schule ist er so gewesen – wurde meist als Erster in die Mannschaften gewählt.
Keiner wollte den kleinen Wadenbeißer als Gegner.
Eigentlich hatte ich mich immer gut mit ihm verstanden. Damals war er aber auch noch nicht mit Rosalie liiert.
Heute war er Kapitän der Rockets. Das Herz des Teams. Letzte Saison war er lange verletzt – vielleicht auch ein Grund für den Abstieg.
Aber jetzt schien er wieder fit und voller Elan zu sein.

Er sah mich etwas fragend an, als würde er nicht sofort erkennen, wer vor ihm stand.
Dann blickte er von mir zu Rosalie – und dann wieder zu mir. Eine Ewigkeit schien zu vergehen.
Da dämmerte es ihm: der Kindheitsfreund seiner Frau. Und ein Niemand im Trainergeschäft – wie er kurze Zeit später noch erfahren sollte.

„Wha gwan, Kalkleiste?“ sagte er in Kittian Creole, der Sprache der Einheimischen.
Es bedeutete so viel wie: Was geht ab?
„Kalkleiste“ bezog sich natürlich auf meine – im Gegensatz zu allen anderen Anwesenden – kränklich blasse Hautfarbe.
So hatten sie mich früher genannt. Die, die glaubten, sie wären witzig.
Haften geblieben war er nie, aber wenn jemand sticheln wollte, kam der Spruch.

Ich schaute ihn durchdringlich an. Dann antwortete ich in etwas eingerostetem Kittian Creole:
„Gud maanin. Ow yuh do, Meeeerwin?“ (Guten Morgen. Wie geht’s dir, Merwin?)
Ich wusste, dass er seinen Vornamen hasste. Alle nannten ihn Lewis.
Aber wenn er mir den Spruch drückt, dann spiele ich eben die Karte zurück.

Er schaute mich überrascht an, dann huschte ein Grinsen über sein Gesicht.
Nicht viele wagten es, ihn so zu nennen – schon gar nicht vor anderen.
Trotzdem wirkte er nicht verärgert, sondern eher beeindruckt von der Retourkutsche.

„Come yah, ma bredda“, (Komm her mein Bruder) sagte er und streckte den Arm zum Einschlagen aus.
Ich lachte, schlug ein, und wir checkten Schulter an Schulter.

„Mi na undastan. Wey yuh come yah?“ (Er verstand nicht woher ich so plötzlich gekommen war)
„Mi live by mi Mama’s house. Mi come by di plane.“(Ich versuchte ihm zu erklären das ich bei meiner Mutter wohnte und mit dem Flugzeug gekommen war)
Er grinste. „Dein Kittian ist auch nicht mehr das Beste.“ erlöste er mich endlich.

Mr. Bradshaw und Rosalie, die das Treiben natürlich aufmerksam beobachtet hatten, konnten sich das Lachen kaum verkneifen.
„Ich hatte lange keine Gelegenheit mehr, es zu sprechen“, versuchte ich mich rauszureden.

„Was machst du denn hier? Alte Bekannte besuchen?“, fragte er und schaute dabei Rosalie an – die aber still blieb.

„Dein Schwiegervater hat mich gebeten, mich hier mal umzusehen.“, erwiderte ich knapp und schaute zu Mr. Bradshaw.

Mervin runzelte die Stirn und schaute ebenfalls zu Bradshaw.

„Er war in England, hat studiert. Außerdem war er schon früher allen einen Schritt voraus – wie du bestimmt noch weißt.
Ich glaube, es wäre gut für euch Jungs, mal wieder jemanden Kompetentes von hier vor euch zu haben.“


Mervin sagte nichts. Aber man sah, wie es in ihm arbeitete.
Dann schaute er mich an. „Du bist also kompetent“, sagte er eher wie eine Feststellung als eine Frage.

Ich hatte eigentlich gedacht, sofort auf Gegenwind zu stoßen, und mich innerlich schon auf eine Diskussion mit der kompletten Meute eingestellt.

„Das will ich doch meinen. Oder etwa nicht, Johnathan?“, riss mich Mr. Bradshaw aus meinen Gedanken.

„Klar, ich bin der Beste auf meinem Gebiet“, sagte ich – wenig überzeugt klingend.

„Na, schlechter als unser vorheriger Coach kannst du nicht sein – denn das ist gar nicht möglich“, lachte Mervin.

„Komm, ich will dir mal die Mannschaft vorstellen“, sagte Mr. Bradshaw und setzte sich Richtung Kabine in Bewegung.

„Na dann wollen wir mal“, dachte ich mir – und stapfte hinterher.


Mervin Lewis - Kapitän und Starspieler
Gespeichert
*13.Dezember 2009©

steffanovic

  • Greenkeeper
  • *
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #12 am: 08.Juli 2025, 01:49:50 »

Prolog 1.3



Die Treppe unter der Tribüne wirkte wie ein Eingang zu einer anderen Welt.
Nicht im romantischen Sinn – eher wie ein Abstieg in etwas, das dringend renoviert werden musste.
Die Betonstufen waren rissig, die Seitenwände schmutzig-gelb, als hätten Regen und Staub einen stillen Pakt gegen die Farbe geschlossen.
Am Fuß der Treppe: eine schwere Metalltür, an der jemand mit Edding das Wort „Kabinen“ geschrieben hatte – in krakeligen, halb verwischten Lettern.

Kaum hatte Mr. Bradshaw die Tür aufgestoßen, schlug uns eine Welle aus Lärm und Mief entgegen.
Ein süßlich-fetter Geruch von altem Fast Food, Deo, Schweiß und irgendetwas Fußpilzartigem.
Drinnen hallte Musik aus einem kleinen Bluetooth-LautsprecherDancehall, laut genug, um den ziemlich langen Flur mit mehreren Türen auf jeder Seite zu beschallen und jedes Gespräch zu übertönen.
Warum so viele Türen? Ach ja – die gesamten Klubs aus dem Umland teilten sich das Stadion, und jeder hatte auf eine eigene Kabine bestanden.
Der Platz unter der Tribüne wurde komplett zugebaut, um allen gerecht zu werden – wenigstens halbwegs.

Gelächter, Rufe, das Knallen einer Plastikflasche gegen die Wand.

Wir gingen bis ans Ende des Ganges und traten in die hinterste Tür rechts.
Auf der Tür klebten diverse Sticker der Rockets, die jedoch allesamt entweder halb abgerissen, überpinselt oder schlichtweg kaum noch zu erkennen waren.
Mervin stellte sich links, ich rechts neben Bradshaw.
Die Tür quietschte langgezogen, als würde selbst sie protestieren.

Drinnen: eine heruntergekommene Umkleide, wie aus den Niederungen der untersten Amateurligen.
Selbst in der achten englischen Liga waren die Auswärtskabinen in einem besseren Zustand – die Auswärtskabinen!

Abgeblätterte Farbe und Krakeleien an den Wänden, ein Neonlicht an der Decke flackerte im unregelmäßigen Takt.
Die Bänke bestanden aus mit Filzstiften beschmierten Holzlatten auf grob gemauerten Betonblöcken.
Darüber hingen zum größten Teil halb abgerissene Metallhaken, von denen meist nichts mehr baumelte – außer ein paar verschwitzten Shirts und einer einzelnen, löchrigen Socke.

Auf dem Boden lagen die Reste diverser Fast-Food-Tüten.
In der Ecke surrte ein alter Ventilator, der mehr Staub aufwirbelte, als das er Luft bewegte.

Ein Saustall sondergleichen – ich hatte so etwas noch nie erlebt.

Drei Spieler saßen eng gedrängt auf einer Bank und teilten sich eine Tüte Chips, aus der sie ohne Rücksicht auf Verluste griffen.
Unter ihnen hatte sich bereits ein respektables Krümelmeer gebildet. Einer von ihnen hielt einen halb ausgepackten Burger in der Hand – fettige Finger, klebriges Grinsen.

Am anderen Ende der Kabine wurde eine Cola weitergereicht und beiläufig eine Zigarette an der Wand ausgedrückt.
Ein bulliger Spieler mit kurzen, rötlichen Afrolöckchen tanzte leicht mit den Schultern zum Beat.
Neben ihm ein schlaksiger Junge, der kicherte wie in der Schulpause und mit dem Finger auf ihn zeigte.

In einer anderen Ecke saßen drei – nennen wir sie Veteranen – die das Treiben amüsiert beobachteten, jedoch bewusst auf Abstand blieben.
Einer von ihnen fischte sich aus einer grünen Sporttasche ein paar Nüsschen heraus. Als sein Sitznachbar ebenfalls zugreifen wollte, gab er ihm einen Klaps auf die Hand um ihn daran zu hindern.

Bradshaw konnte das Schauspiel kaum fassen – man sah, wie sein Schädel langsam rot anlief.
Er marschierte schnurstracks durch die Mitte der Kabine zur Musikbox, nahm sie sich – und feuerte sie mit voller Wucht gegen die Wand.

Sie zersprang in dutzende Einzelteile.
Die plötzliche Stille war ohrenbetäubend.

Er drehte sich langsam um. Die Hände in die Hüften gestemmt.
Alle Augen waren auf ihn gerichtet.

„Ich frag euch jetzt mal ganz direkt“, begann er – laut, klar, tief einatmend.
„Was zur Hölle wird hier eigentlich gefeiert?! Seid ihr noch ganz dicht?!“ schrie er nun aus voller Kehle.

Keiner antwortete.

Nur die Tomatenscheibe hatte ihren dramatischen Auftritt nicht verpasst.
Sie glitt in gefühlter Zeitlupe aus dem Burger und landete mit einem schmatzenden Platschen auf dem Boden.

Niemand lachte.

„Ihr wurdet vorgeführt. Woche für Woche. Und jetzt sitzt ihr hier – fettige Finger, leere Köpfe und keinerlei Schamgefühl!“


Er schnaufte, niemand wagte sich zu rühren.

„Das hier...“, er deutete mit der Hand durch den Raum, „...ist kein Kindergarten. Das ist ein Fußballverein. Und ich hab die Schnauze sowas von voll.“

Mervin saß still neben mir, den Blick nach vorne gerichtet. Ich beobachtete die Szene, sagte jedoch kein Wort.

„Ich werde jetzt andere Seiten aufziehen und das Ganze wieder selbst in die Hand nehmen. Und das Erste, was ich mache, ist hier aufzuräumen.“

Er zog einen kleinen Notizzettel aus der Tasche und faltete ihn langsam auf.

Tyquan Terrell. Kyron Rivers. Salas Cannonier. Ihr packt eure Sachen – und dann haut ihr ab. Ab heute seid ihr raus.“


Ein Raunen ging durch den Raum.
Terrell – der Typ mit dem Burger – starrte ihn ungläubig an. „Was?! Sie machen Witze, Mann...“

„Nein. Ich mache keine Witze. Mann!


Cannonier lachte verächtlich, stand auf. „Kein Ding. Ich hab eh ’n Angebot von Saint Peter’s. Das hier ist sowieso ein Witzladen. Peace out, ma bredda.“

Er schnappte sich seine Tasche, klatschte mit Terrell ab und ging schnurstracks nach draußen, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Rivers schüttelte nur den Kopf, verzog keine Miene.

Terrell blieb noch eine Sekunde lang sitzen, dann schleuderte er den Rest des Burgers gegen die Wand, schlug sich mit der Faust auf die Brust, formte zwei Finger zum Peace-Zeichen – und verließ wortlos die Kabine.

Niemand sagte etwas. Keiner lachte mehr.

Bradshaw wartete kurz, dann fuhr er – etwas ruhiger, aber noch immer eindringlich – fort:

„Und weil ihr euch offensichtlich nicht mal mehr zum Joggen aufraffen könnt, haben wir was Neues: GPS-Westen. Richtig professionelle Teile. Die zeichnen alles auf.“

Ich dachte, das sei bloß ein Witz – aber er meinte es todernst.

Ein kurzer Blick durch den Raum. Gemischte Reaktionen.

Der Co – ein Relikt aus der Zeit vor dem letzten Trainer, und vermutlich auch noch da, wenn alle anderen längst wieder weg waren – trat einen Schritt vor.
Ein drahtiger Typ mit schiefem Kinn und Polohemd.
Er musste sich während Bradshaws Wutrede unbemerkt hereingeschlichen haben. Ein richtiges Wiesel, dachte ich mir.

„Die hab ich organisiert“, sagte er stolz. „War gar nicht so einfach.“

Er grinste zufrieden und wähnte sich bereits als neuen Cheftrainer – das sah man ihm deutlich an.

Bradshaw würdigte ihn kaum eines Blickes.

„Sehr gut. Dann zeig den Jungs morgen früh, wie sie funktionieren. Und wehe, ich seh einen von euch schummeln – oder gehen wie auf’m Sonntagsspaziergang.“

Einige nickten langsam. Andere starrten nur stumm ins Leere.

„Und noch was: Wir suchen natürlich Verstärkungen. Heißt: Keiner ist gesetzt. Jeder spielt um seinen Platz.
Wer meint, er kann sich zurücklehnen – der kann sich gleich den anderen anschließen.“


Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen:

Links außen saß ein kleiner, hagerer Außenverteidiger. Vielleicht 1,70, sehnig, mit leicht asiatisch wirkenden Zügen.
Er wirkte still, fremd, fast verloren – so, als wäre er noch nicht richtig angekommen.

Drei Plätze weiter ein kräftiger Mittelstürmer mit hochstehender Afro-Frisur und eingefrorenem Blick. Keine Angst. Keine Zustimmung. Nur Spannung und ein etwas zu großes Lächeln.

Neben dem Co-Trainer lümmelte ein schlanker Jugendspieler mit fast kahl geschorenem Kopf und leuchtend grünen Schuhen. Wahrscheinlich technisch stark – aber er kaute Kaugummi, als sei er das Werbegesicht der Marke.

Ein anderer Spieler hatte die Beine auf die Bank gelegt und starrte beiläufig auf den Bildschirm seines Handys.
Erst als Bradshaw ihm einen Todesblick zuwarf, schaltete er es kommentarlos aus.

In der Mitte saß ein junger Keeper. Eigentlich noch ein Kind.
Schätzungsweise 1,75 groß und genauso schmal, wie er klein war.

Gardemaße
für einen Torwart, dachte ich zynisch – und runzelte die Stirn.

Ich blickte zu Mervin.
Er saß da wie ein Mann, der wusste, dass das hier alles nicht sein Problem war.
Er hatte letzte Saison verletzt gefehlt – das war seine Ausrede. Und gleichzeitig seine Genugtuung.

Sein Blick traf meinen für einen Moment. Und ich hätte schwören können: Da war ein Hauch von Schadenfreude.
Vielleicht sogar ehrliche Freude darüber, dass jetzt endlich andere Seiten aufgezogen wurden.

Bradshaw
schloss seine Rede:

„Als Erstes räumt ihr den Saustall hier auf. Danach genießt ihr den Rest eures Tages.
Ab sofort wird dienstags und donnerstags trainiert, samstags gespielt – und wir planen ein zusätzliches Freundschaftsspiel unter der Woche. Jede Woche!
Morgen, zehn Uhr. Und wehe, einer kommt in Flip-Flops, Hawaiihemd oder mit ’ner Tüte Chips.“


Er drehte sich um, marschierte zur Tür.

Mervin
und ich standen ebenfalls auf und verließen gemeinsam die Kabine.
Hinter uns blieb ein Raum voller Schweigen – betreten, nachdenklich, und in manchem Gesicht: ein zustimmendes Nicken.

Wir gingen wortlos das kurze Stück zum Parkplatz, wo Rosalie mit den Kindern am Auto wartete.
Sie wusste wohl, dass es nicht lange dauern würde.

Mervin
nickte mir zu. „Wir fahren schon mal los – es gibt noch einiges zu tun bis morgen“, sagte er knapp.
Dann küsste er Rosalie auf die Stirn und verstaute den Kinderwagen.

Bradshaw hob kurz die Hand zum Gruß, dann wandte er sich mir zu.

„Lass uns ’nen Kaffee holen. Ich weiß, wo’s den besten gibt – da vorne in der Bucht.“

Er zeigte mit dem Finger Richtung Hafen.

Ich nickte. Noch sagte ich nichts. Aber innerlich wusste ich:

Jetzt war ich mittendrin. Und ich wusste: Es würde eine verdammte Feuertaufe werden.



Bucht von Basseterre


___________________________________________________________________________________________________ _____________

Mal schauen wer von euch im weiteren Verlauf genau aufpasst und die einzelnen Spieler wiedererkennt ;)
« Letzte Änderung: 08.Juli 2025, 02:02:45 von steffanovic »
Gespeichert
*13.Dezember 2009©

Signor Rossi

  • Researcher
  • Weltstar
  • *****
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #13 am: 08.Juli 2025, 08:11:48 »

Mir ist etwas aufgefallen ;D Mervin ist erst 24 Jahre alt, das ist eigentlich zu jung, wenn Jonathan ca. 29 Jahre oder älter ist.
Gespeichert

steffanovic

  • Greenkeeper
  • *
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #14 am: 08.Juli 2025, 12:30:29 »

Mir ist etwas aufgefallen ;D Mervin ist erst 24 Jahre alt, das ist eigentlich zu jung, wenn Jonathan ca. 29 Jahre oder älter ist.


Du bist ein Fuchs 😉
Wer sagt denn, dass der Protagonist nicht schon als Kind mit Älteren oder Jüngeren gekickt hat? 😅
Aber ja, du hast völlig recht – im Nachhinein war Mervin mit seinem Charakter, Attributen und 24 Jahren vielleicht nicht die ideale Wahl für die Rolle, die ich ihm gegeben habe. Ist halt meine erste Story, da schleichen sich solche Dinge schon mal ein. Ich hoffe, du kannst mir den kleinen Fauxpas verzeihen – und ihn gedanklich einfach passend altern lassen.

PS: Es sind teilweise natürlich originale Schauplätze und Spieler, die Geschichte dazu ist jedoch frei erfunden und im echten Leben erfüllen meine "Stinkstiefel" bestimmt ihre Vorbildfunktionen für die jüngere Generation.

Danke dir auf jeden Fall für den Hinweis – und ich wünsche dir und allen Anderen weiterhin viel Spaß beim Lesen!
Gespeichert
*13.Dezember 2009©

knufschu

  • Halbprofi
  • ****
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #15 am: 08.Juli 2025, 22:13:48 »

Für den Urlaub folgt nun die Lektüre hier! Freue mich über neuen Lesestoff, der nachgeholt werden wird :-)
Gespeichert

steffanovic

  • Greenkeeper
  • *
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #16 am: 09.Juli 2025, 00:12:37 »

Prolog 1.4



Wir fuhren schweigend. Bradshaw hatte das Fenster einen Spalt geöffnet und trommelte mit zwei Fingern aufs Lenkrad – ohne Takt, ohne Melodie, einfach nur, um die Stille zu vertreiben.
Die Sonne stand nun hoch über den Hügeln von Basseterre, ihre Strahlen spiegelten sich flirrend auf der Windschutzscheibe.
Auf dem Armaturenbrett lag eine weich gewordene Packung Kaugummis, daneben ein zerknickter Notizblock mit einem Stift, dessen Kappe zerkaut war.

Die Straße führte in engen Kurven hinunter zur Bucht. Links das satte Grün der tropischen Vegetation, rechts immer wieder kleine Blicke aufs Meer – türkisblau, fast zu kitschig, um echt zu sein.
Wir passierten ein paar Kinder in Schuluniformen, die lachend einen Fußball über den sandigen Straßenrand kickten.
Ein streunender Hund trottete träge an einem Müllcontainer vorbei.

Bradshaw sagte nichts. Ich auch nicht. Ich spürte nur, wie der Fahrtwind mir den Schweiß von der Stirn trocknete.
Meine Gedanken waren woanders – irgendwo zwischen dem miefenden Kabinenboden und dem leicht zitternden Daumen, mit dem ich nervös über meinen Oberschenkel strich.

Dann tauchte sie vor uns auf – die Waterfront. Die bunten Häuser mit ihren roten und türkisfarbenen Dächern, das kleine Empfangsgebäude mit der Kuppel, die aus dieser Perspektive fast wie eine Krone wirkte.
Wie eine Karikatur eines Kolonialhafens, aufpoliert für Touristenkreuzfahrten – und doch: schön.

Wir parkten zwischen zwei weißen Minivans. Bradshaw stieg aus, riss die Fahrertür auf, ließ sie einen kurzen Moment lang offen stehen.
In der vordersten Reihe zum Meer stand auch das Casino, auf das äußerst dezent mit den riesigen bunten Lettern "Slots, Slots, Slots" hingewiesen wurde.

Der Besitzer musste gute Beziehungen zur Stadtverwaltung haben – wie sonst konnte er eines der besten Grundstücke mit diesem Bunker bebauen und vielen anderen Häusern die Sicht aufs Meer versperren.
Immerhin beherbergte das oberste Stockwerk auch ein Café, das offenkundig unser Ziel war.

„Komm. Der Kaffee ist besser, als es hier aussieht.“
„Und man hat einen netten Blick auf’s Meer vom Balkon.“ Er versuchte überzeugend zu klingen.
„Außerdem bin ich mit dem Besitzer in Verhandlungen über einen Sponsorenvertrag, der unsere Kasse ordentlich aufbessern könnte.
Es stärkt vielleicht unsere Verhandlungsposition, wenn er sieht, dass ich mich öffentlichkeitswirksam hier blicken lasse.“


Ich folgte ihm ohne ein Wort. Das Pflaster unter meinen Sandalen war aufgeheizt, fast brennend. Am Pier schlenderten ein paar ältere Touristen mit Strohhüten.
Eine junge Frau bot frisch gepresste Säfte an. Ein Mann mit Dreadlocks spielte auf einer verstimmten Gitarre und versuchte, sich ein paar Münzen dazu zu verdienen.
Alles wirkte ein wenig künstlich. Als hätte jemand versucht für Touristen einen Ort herzurichten, wie er dachte, das sie sich die Karibikhäfen vorstellen würden.

Eine salzige Brise zog durch die Luft – für einen kurzen Moment angenehm, doch kurz darauf war die Hitze wieder da.

Das kleine Café im Obergeschoss war einfach eingerichtet.
Zwei Holztische auf dem Balkon, dahinter ein schattiger Innenraum mit einem Ventilator, der ein leises whupp-whupp-whupp von sich gab.
Es roch nach Kaffee, Vanille – und ein bisschen nach diesen „Spezialzigaretten“, von denen immer ein einzigartiger, süßlicher Duft ausging.

Hinter dem Tresen stand ein buckliger alter Mann, der sich mit einer Hand auf die Theke stützte und mit der anderen Kaffee in verschiedene Behältnisse füllte.
Im Mundwinkel klemmte ihm eine dieser"Spezialzigaretten", die jedoch nur noch glimmte und bereits halb aufgeraucht war.
Seine Bewegungen waren sehr langsam und er schaute nur kurz auf als wir eintraten und das Türglöckchen klingelte.

„Baitshaw.“ krächzte er mit einer tiefen, kratzigen Stimme, die nicht nur durch jahrzehntelanges Rauchen, sondern auch durch das ungesunde Trinkverhalten eines Baarkeepers, welcher wohl selbst sein bester Kunde war, in Mitleidenschaft gezogen wurde.

„Bradshaw.“ seufzte dieser – offenbar müde, sich weiter dem alten Kampf um die richtige Aussprache zu stellen.

Der Alte murmelte sich etwas Unverständliches in den Bart und hatte keinerlei Intresse daran uns länger seine Aufmerksamkeit zu schenken.
Er neigte den Kopf zur Seite und wandte sich wieder seinem Kaffee zu.

Wir setzten uns an einen freien Tisch auf dem Balkon, der einen direkten Blick auf das kristallklare Wasser offenbarte - man konnte von hier aus sogar den Meeresgrund erkennen.
Bradshaw winkte einer Frau zu, welche anscheinend zum Personal gehörte, jedoch gerade im inneren, mit den zwei einzig anderen Gästen des Café´s an einem Tisch saß.
Sie nickte, offenbar kannte sie ihn ebenfalls – wahrscheinlich verirrten sich hier nur Stammkunden her, obwohl die Lage des Café´s kaum besser sein konnte.
Die junge Frau, ca. 1,80m, war schlank und hatte lange schwarze Haare.

„Was nimmst du?“ fragte mich Mr. Bradshaw.
„Kaffee mit Milch. Und Zucker. Viel Zucker.“ erwiderte ich.
„Hätt’ ich mir denken können. Manches ändert sich nie.“

Die Kellnerin hatte offenbar mitgehört und ging direkt zur Theke. Dort diskutierte sie mit dem Alten, fast als stritten sie sich ein wenig.

Dann kam sie mit zwei Tassen zu uns an den Tisch.
„Einmal wie immer für Mr. B. – und einmal ein bisschen Kaffee und Milch zum Zucker für seinen Gast.“ witzelte sie, bevor sie wieder zurück an ihren Tisch ging, ihr Handy nahm und anfing zu telefonieren.

„Wo bist du?... Warum?... Komm her und zieh dir was Vernünftiges an, Mr. B ist hier!... Ja...und macht nichts, wenn’s schnell geht.“

Mein Kaffee dampfte. Ich rührte langsam um, der Löffel klirrte leise. Die Milch färbte sich goldbraun, es duftete nach Heimat – und ein wenig nach Du schaffst das irgendwie.

Sie kam zurück.

„Mein Bruder hatte heute nicht mit Ihnen gerechnet, Mr. B. Er sagt, es tut ihm sehr leid, aber er kommt sofort.“ sagte sie und lächelte dabei etwas verlegen.
„Sie können ihm ausrichten, dass ich nur hier bin, um meinem Freund euer schönes Café zu zeigen – und dabei wird seine Anwesenheit nicht von Nöten sein.
Ich melde mich direkt bei ihm, wenn ich gedenke, übers Geschäft zu sprechen.“
sagte er ungewohnt geschwollen.

„Oh, Ich werde es ausrichten. Genießen Sie Ihren Kaffee werte Herren.“ sagte Sie ein wenig spöttisch, machte einen Knicks und verschwand wieder nach drinnen.

„Was war das denn?“ fragte ich.

„Du siehst ja, wie viel hier los ist, nämlich fast nichts. Unten im Casino ist es nicht großartig anders. Der Deal ist für sie genauso wichtig wie für uns." erklärte Mr. Bradshaw und ging nicht weiter auf meine Frage ein.
Sie brauchen Publicity – wir brauchen das Geld. Und über wen wird hier am meisten berichtet, wenn die großen Hauptstadtclubs mal verlieren? Genau: über die wiedererstarkten Rockets und ihre Sponsoren.“

Macht Sinn dachte ich - wenn es alles genau so eintrifft.

Bradshaw ließ mich einen Schluck trinken, dann fuhr er fort:

„Aber deswegen sind wir heute nicht hier. Du hast gesehen, dass der Co-Trainer denkt, er würde jetzt befördert werden, nicht wahr?“ fragte er und schaute mich direkt an.

Ich nickte langsam.

„Er wird sicher nicht begeistert sein, wenn er erfährt, dass er in zweiter Reihe bleiben soll."
Bradshaw schnaubte und lehnte sich zurück.
Ich trau’s ihm nicht zu. Aber er gehört zum Inventar, deswegen möchte ich ihn eigentlich auch nicht rauswerfen – zehn Jahre ist der gute Mann schon im Verein und gemeckert hat er nie.“

Ich trank einen weiteren Schluck und stellte die Tasse ab.
„Wir können ihn auch gar nicht rauswerfen. Ich hab nämlich gar keine Lizenz.


Stille.


Bradshaw sah mich an, als hätte ich gerade gestanden, sein Boot im Meer versenkt zu haben.

„Wie bitte? Ich dachte, du hast all deine Scheine gemacht und…“

Mehr brachte er nicht raus. Enttäuschung überkam ihn.
Er sah seinen schönen Plan davonschwimmen, wie ein Boot das den Hafen verlässt.

„Ich hab keine Lizenz. Noch nicht. Deshalb brauchen wir Ihn.
Auf dem Papier könnte er den Cheftrainerposten übernehmen und Ich wäre bloß der Assistent. Offiziell. In Wirklichkeit würde ich die Zügel in der Hand halten und die Richtung vorgeben“


Bradshaw blinzelte, lehnte sich vor.

„Du hast dir also schon Gedanken gemacht?“

„Natürlich. Ich bin vielleicht ohne Zettel, aber nicht ohne Plan.“

„Glaubst du denn, du bekommst das hin?“

Ich zuckte mit den Schultern

„Mit dem Team? Jeder Depp könnte mit denen aufsteigen. Selbst ohne Training wären sie mit Abstand die Besten in Liga zwei. Die Gegner da draußen sind doch höchstens zweitklassige Hobbykicker.
Wir dagegen haben einige gute Spieler aus der ersten Liga – aktuell nicht Fit, klar, aber immerhin. Garantieren kann ich natürlich nichts.“


Bradshaw rieb sich übers Kinn und überlegte einen Moment.

„Was sagst du zu fünftausend?“

„Dollar?“

„Ja klar, was glaubst du denn? Apfelsinen?“

Ich trank aus, sah ihn an und setzte mein bestes Pokerface auf.
„Zehntausend. Plus Lizenz.“ sagte ich so selbstbewusst wie nur irgend möglich.

Er lachte trocken.
„Ganz schön frech.“

„Du hast mich doch gefragt – und herbestellt.“ entgegnete ich ohne eine Miene zu verziehen.

Er schüttelte grinsend den Kopf.

„Na gut. Aber dann fängst du morgen an und regelst das mit dem Co-Trainer. Zehn Uhr Training – wie besprochen.“

„Deal.“ sagte ich triumphierend und wir reichten uns die Hand.

Er drückte sie deutlich fester als nötig und hielt meine Hand einen Moment lang fest. Als ich sie versuchte sie zurückziehen, drückte er noch ein wenig fester zu und schaute mir dabei tief in die Augen.

„Du weißt, dass ich mit dir einiges riskiere, oder? Sorge dafür, dass wir beide es nicht bereuen.“ Der Tonfall war ernst und erst jetzt ließ er meine Hand wieder los.

Ich zog sie schnell zurück und versuchte wieder Gefühl darin zu bekommen, welches er mir zuvor komplett herausgequetscht hatte.

Bradshaw lächelte nun wieder leicht, griff in seine Tasche und zog ein zerknittertes DIN-A4-Blatt hervor.
Er klatschte es vor mir auf den Tisch und strich sorgfältig einige Male darüber.
Daneben legte er einen, mit feinen Linien verzierten, silbernen Füller. Er hatte die Initialen T.B. in verschnörkelten, goldenen Lettern eingraviert und sah ziemlich teuer aus.


„Ich bin ebenfalls gut vorbereitet." erklärte er Stolz und tippte auf das Blatt Papier. "Unterschreiben."

„Was zur Hölle… Wie konntest du…?“

„10.000 per Anno – wie du wolltest. Die 250 sind für die Lizenz.“ rief er vergnügt.
„Ich kenn doch meine Jungs.“ lachte er und verschluckte sich beinnahe.

Ich las das Papier nochmal genauer und tatsächlich - auf dem Vertrag stand genau 10.250$ p.a., vorgedruckt – mit dem Computer. 
Er hatte es nicht eben gerade erst händisch eingetragen. Alles war bereits genau vorbereitet worden und er schien sich seiner Sache offenbar ziemlich sicher.

Bin ich wirklich so leicht zu durchschauen? fragte ich mich.
Anscheinend liest er mich wie ein offenes Buch – gut, dass wir auf derselben Seite stehen.

Wir lachten beide.

Im Hintergrund schlug eine Welle gegen die Kaimauer. Ein pelziger Straßenkater sprang erschrocken zur Seite und riss dabei einen Blumenkübel in den Abgrund.
Er zerschellte unten angekommen auf den Steinen, der Kübel, nicht der Kater.

Ich nahm den Füller und wog ihn in der Hand noch ein paar mal hin und her.
Mr. Bradshaw sah mich erwartungsvoll an.



Ich unterschrieb.



Das war er also, mein erster Vertrag.
Er war vordatiert auf den 09.01.23.


Ich hatte also noch etwas Zeit, doch die Arbeit auf dem Platz würde schon morgen früh beginnen. 10:00.
















– Ende des Prologs –
« Letzte Änderung: 09.Juli 2025, 00:34:06 von steffanovic »
Gespeichert
*13.Dezember 2009©

Signor Rossi

  • Researcher
  • Weltstar
  • *****
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #17 am: 09.Juli 2025, 08:02:57 »

Ich hoffe, du kannst mir den kleinen Fauxpas verzeihen – und ihn gedanklich einfach passend altern lassen.
Achwas, das ist doch nur ein winzigkleines Detail, überhaupt kein Problem, nichtmal ansatzweise!
Gespeichert

steffanovic

  • Greenkeeper
  • *
  • Offline Offline
Re: Monkey Hill Blues
« Antwort #18 am: Gestern um 22:20:03 »

Kapitel 1:
Der erste Tag






Es war das Endspiel.
Nach einer Saison voller Höhen und Tiefen, war alles bereit für das finale Spiel im "Best of Five". Zuvor hatten beide Teams je zwei Spiele gewonnen.

Die Luft im Stadion war dick wie Suppe. Keine der beiden Mannschaften hatte bisher ein Tor erzielen können. Jeder Ballverlust war ein Schlag in den Magen, jeder Fehlpass ein Aufschrei auf den Rängen.
Beide Mannschaften hatten Angst den entscheidenden Fehler zu machen und es hatte daher viele Unterbrechungen und wenig Spielfluss gegeben.
Es lief bereits die Schlussviertelstunde.

Ich hatte eine Idee.
Die Innenverteidigung des Gegners war stark im Zweikampf, in der Luft jedoch schwach - da sie kaum über eins achtzig war.
Unsere Spieler konnten das bisher aber nicht ausnutzen da sie zwar technisch gut, aber auch eher klein waren.
Warum also nichts Neues versuchen?

Ich rief den vierten Offiziellen heran um ihm zu signalisieren das wir wechseln wollten. Bei der nächsten Unterbrechung würde es soweit sein.
Ich nahm einen Mittelfeldspieler und einen Stürmer runter.
Dafür: ein Innenverteidiger – groß, robust – und einen frischen Sechser zur Absicherung.

Als die Nummern auf der kleinen Wechseltafel aufleuchteten ging ein Raunen durchs Stadion.
„Sie fangen an zu mauern!“, brüllte der Kommentator.
„Der junge Trainer hat Schiss. Der Druck ist wohl zu groß für ihn. Offensichtlich will er seine Mannschaft in die Verlängerung retten."

Ich ließ sie reden.
Ich hatte den Jungs am Seitenrand gerade noch ein paar letzte Worte mit auf den Weg gegeben, da signalisierte der Schiedsrichter es wäre Zeit für die Wechsel.

Die Nummer 3 kam für die Nummer 11 und die 30 für die 6.

Das Spiel wurde mit einem Einwurf fortgesetzt.
Unser Team hielt den Ball erstmal in den eigenen Reihen und spielte ihn nach hinten, zurück zum Torwart. Dieser nahm ihn an und suchte mit wachem Blick nach einem freien Mitspieler.
Er legte sich den Ball ein kleines Stück vor, dann nochmal und danach sogar ein drittes Mal, weil er nicht angelaufen wurde.
Er stand nun schon ein ganzes Stück vor seinem Strafraum und als sich endlich ein Gegenspieler in Bewegung setzte ging es plötzlich ganz schnell:

Er spielte den Ball geschickt mit einem Heber über den anlaufenden Gegner nach links außen, nah an die Seitenlinie.
Unser Flügelspieler pflückte den Ball artistisch, mit ausgestrecktem Bein, aus der Luft, ließ dabei einen Gegenspieler ins Leere laufen und startete mit Tempo einen Lauf.

Der Kommentator nun fast im stehen:

Schöne Ballannahme....er verschafft sich Platz......Chambers auf Links.....er lässt seinen Gegenspieler stehen und nimmt Fahrt auf.....
Übersteiger.....junge, junge.....er zieht nach innen.....zieht ab.....und
....Oouuhhh...böses Foul von Crawford....mit beiden Beinen in den Gegner.
Das muss der Schiedsrichter ahnden und das tut er auch: Gelbe Karte für Crawford – damit ist er gut bedient.
Es gibt einen Freistoß aus aussichtsreicher Position.

Freistoß, ca. zwanzig Meter vom Tor entfernt. Gute Position für einen Rechtsfuß.

Sieht so aus als würde Brennan den Freistoß treten. Er legt sich den Ball nochmal ein Stück vor und der Schiri ermahnt Ihn. Nun benutzt er sein Freistoßspray.
Brennan atmet noch einmal tief durch.
Vier, fünf Schritte zurück.
Er läuft an....schöne Flanke in den Strafraum, mehrere Spieler steigen zum Kopfball hoch....wuchtiger Kopfball von Lawrence mit der Nummer 3....
....Pfosten....Gewusel im Strafraum....sie bekommen den Ball nicht geklärt...wieder Lawrence, er schießt und...






MEEP.
MEEP.
MEEP
.




Ich fuhr hoch.
08:00 Uhr.
Scheiße. Dreckswecker.
"Finger ---> „Snooze“



MEEP.
MEEP.
MEEP.




08:15 Uhr.
Scheiße, scheiße, scheiße.
Ich knallte erneut auf „Snooze“, drehte mich auf die Seite und fluchte leise.
Nur zehn Minuten. Zehn Minuten noch in der Illusion bleiben, erfolgreich zu sein. Trainer zu sein.
Bevor mich der Schweiß, die Hitze und der Tag einholten.

Ich zog mir das Laken über den Kopf.



MEEP.
MEEP.
MEEP.




08:20 Uhr.
Wieder dieses Geräusch. "Weiche von mir, Satan!"
Warum tat ich mir das an? Es wurde jedes Mal schlimmer. Weniger freundlich, noch nerviger. Ich tastete nach dem Handy, drückte den Alarm aus – diesmal endgültig.

Ich blieb noch kurz liegen, starrte an die Decke, wo sich ein feiner Riss durch den Putz zog.
Welcome to my Life. Fuck.

Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Wenn ich eines hasste, dann war es der Morgen.

Jeden Tag aufs Neue diese qualvolle Prozedur.
Jeden Tag aufs Neue sagte ich mir: „Morgen stehst du gleich auf!“
Und jeden Tag aufs Neue blieb ich liegen und geißelte mich selbst.
Sowas tun doch nur Masochisten, oder?

Das ist doch die Definition von Wahnsinn: Jeden Tag dasselbe tun – und andere Resultate erwarten.
Das ist es, was mir dazu einfällt. War ich verrückt?

Verdammt, ich hasste alles an einem Morgen. Das Aufstehen, die Müdigkeit, die volle Blase nach der Nacht und die Hähne, die in Nachbars Garten krakeelten.
Auf dem absoluten Spitzenplatz jedoch, waren Sie...die gute Laune Morning Shows. Sei es im Radio oder dem TV, alles Müll.
Mit der lustigen Luna und dem fröhlichen Flo oder dem witzigen Wiesel und der rattenscharfen Raterunde. Aaargh!
Meine Mutter und ich hatten uns deshalb darauf geeinigt, dass die elektrischen Beschallungsgeräte bei uns am morgen ausblieben. Trotzdem hörte ich es.
Anscheinend fand irgendein verblödeter Nachbar die Idee klasse, den Rest der Nachbarschaft ebenfalls mit seinem Lieblingsradiosender zu beschallen.
Nicht das noch jemand die rattenscharfe Raterunde verpasst. Eines Tages....
Ich versuchte mich zu beruhigen, nicht das ich am frühen Morgen schon Probleme mit Bluthochdruck bekomme.

Der Fliesenboden war kühl, draußen kreischten Vögel, irgendwo bellte mal wieder ein Hund.
Aus der Küche klapperte es, etwas brutzelte in der Pfanne, das Radio war stumm - doch hörte ich meine Mutter leise eine Melodie pfeifen.

Sie war schon wach. Schön dachte ich, musste ich mich nicht auf allzu leisen Sohlen bewegen.

Das Haar zum Knoten gebunden, stand sie barfuß in alten Hausschuhen am Herd und rührte in einer Pfanne.
Auf dem Tisch: ein Teller mit frisch geschnittenen Mangostreifen – sorgfältig fächerförmig ausgelegt. Daneben: mein alter Becher, eine Thermoskanne, die Zuckerdose – und mein Metallsieb.

„Morgen, mein Großer.“
Sie sah nicht auf, als ich hereinschlurfte.
„Ich hab Mango gemacht. Und dein Sieb steht da, wo’s hingehört. Timothy meinte gestern, du brauchst heute morgen was mit Vitaminen.“

Ich murmelte etwas in meine Bartstoppeln, setzte Wasser auf, warf den grob gemahlenen Kaffee in den Topf und wartete, bis er brodelte.
Dann durchs Sieb, in meinen großen Becher. Wir besaßen zwar eine Kaffeemaschine, mir schmeckte der "Topfkaffee" aber immer noch am besten.

Vier Löffel Zucker. Bei meinem großen Becher fünf.
Kaffee: Erstes K. Abgehakt.

Ich ging zum Küchenwaschbecken, wusch mir die Hände und spritze mir ein wenig Wasser ins Gesicht.
Meine Haare versuchte ich ebenfalls mit etwas Wasser zurückzustreichen, meine Frisur war morgens wie meine Stimmung, am Boden und in alle Richtungen zerstreut.
Ich nahm ein Geschirrhandtuch und trocknete mir flüchtig das Gesicht.
"Wie oft soll ich dir noch sagen, das damit nur Geschirr getrocknet wird?"
"Ja, ja. Bin schon weg." sagte ich genervt, setzte mich auf die Stufe vor dem Haus, zündete mir eine Zigarette an und ließ den Blick schweifen.
Kippe: Zweites K. Auch abgehakt.

Das Handy vibrierte. Eine Nachricht.
Rosalie.

„Hey. Schön, dich gestern gesehen zu haben. Auch wenn nicht viel Zeit war zum Reden. Vielleicht holen wir das ja mal nach? Beim Kaffee oder so :)

Blinzelnd
las ich die Nachricht. Runzelte die Stirn.
Ich wollte etwas schreiben, wusste aber nicht was.

Die Sonne blendete. Auch um diese frühe Uhrzeit hatte sie schon die Energie, mich halb erblinden zu lassen.
Dann drückte ich auf den Bildschirm, legte das Handy zur Seite – und vergaß es im nächsten Moment, als mir der Geruch von geröstetem Brot in die Nase stieg.

„Mama?“
„Hm?“
" Was machst du da?" fragte ich, in der Hoffnung auf mein Lieblingsbrot mit Kürbis und Süßkartoffel.
"SüKü"
"Jackpot", es war genau die Antwort die ich mir erhofft hatte.
Das "SüKü" Rezept wurde schon über Generationen in unserer Familie weitergegeben und war ein streng gehütetes Geheimnis.
Nur den weiblichen Mitgliedern der Whitecliffe Familie wurde die Ehre zu Teil, das "SüKü" backen zu dürfen und das Rezeptgeheimnis zu bewahren.
Ich müsste Mutter noch einmal bitten, mir die ganze Geschichte der Familientradition zu erzählen.
Bisher hatte sie immer nur vereinzelt Dinge preisgegeben die damit in Zusammenhang standen.
Dies würde jedoch warten müssen, wollte ich pünktlich zu meinem eigenen Trainingsauftakt erscheinen.

"Übrigens, diesmal bleib ich länger. Kein Kurzaufenthalt. Gestern habe ich bei Mr. Bradshaw meinen ersten Vertrag unterschrieben." sagte ich und war doch ein klein wenig Stolz darauf.
Schließlich war dies zugleich meine erste Festanstellung überhaupt.

Sie drehte sich zu mir um, Löffel in der Hand, Stirn leicht gerunzelt, aber mit einem Lächeln, das auch irgendwo zwischen Stolz und Erleichterung lag.

„Ich weiß. Timothy hat’s mir gestern schon gesagt.“

"Vor dir könnte man auch nichts geheim halten. Lang lebe die Königin des Buschfunk." lachte ich, nun deutlich besser gestimmt als noch vor fünf Minuten.

Sie kam näher, schaute mich ernst an und setzte sich zu mir.
„Ich freu mich für dich, mein Junge, wirklich. Nicht nur, weil du bleibst. Du brauchst das. Aber die hier… die brauchen dich auch.“ sagte sie und ihr Finger deutete auf die Nachbarschaft.

"So und jetzt mach das du loskommst, sonst fällt "SüKü" für dich heute aus." feixte sie nun wieder deutlich entspannter.

Ich nickte. Schluckte den letzten Rest Kaffee runter, stand auf, kratzte mir den Bauch und ging ins Bad.

Drittes K: Auch gleich erledigt. Check.
Danach huschte ich noch schnell unter die Dusch, zog mir ein sauberes T-Shirt über und packte mir etwas von dem Essen ein.
Rucksack. Notizbuch. Handy. Fertig.

Ich trat zurück in die Küche, gab meiner Mutter noch einen Kuss auf die Wange und sagte: „Ich nehm nicht das Auto. Falls du noch wegmusst oder was brauchst heute.“

„Gut so. Ein bisschen Bewegung schadet dir nicht. Und denk dran – nicht gleich wieder alle vergraulen mit deinem Morgen-Gemuffel.“

Ich grinste, öffnete die Tür, trat hinaus.
Heute war ein guter Tag.
Es war heiß, das Licht gleißend, die Straße flimmerte und meine Laune war gar nicht mal so schlecht.
Ich setzte meine Kappe auf und zog sie zurecht.
Ein wirklich guter Tag.

Jetzt war ich also Trainer.
Oder jemand, der zumindest so tat.


Ich trat auf die Straße, und sofort klatschte mir wieder die Hitze ins Gesicht – wie eine nasse Zeitung.
Es war noch nicht mal halb zehn, und doch roch alles schon nach Mittag – nach Staub, warmem Stein und glühender Haut.
Ich zog die Kappe tiefer ins Gesicht, schulterte meinen Rucksack und drehte mich noch einmal kurz zum Haus um. Das grün gestrichene Tor quietschte leicht im Wind – dann machte ich mich auf den Weg.

Die Sandpiste vor dem Haus war noch weich vom nächtlichen Tau. Kleine Pfützen glitzerten in Schlaglöchern, in denen sich Libellen und Fliegen tummelten.
Irgendwo drüben sang ein Vogel gegen das Surren eines Mopeds an. Alles war wach – ich war der Letzte, der auf Betriebstemperatur kam.

Die Straße war staubig und uneben, ausgeflickt mit allem, was greifbar gewesen war: Muschelschotter, Asphaltreste, Beton.
Vorbei an Wellblechdächern, halb fertig gestrichenen Fassaden und Wäscheleinen, die quer über die Gassen gespannt waren wie flatternde Zebrastreifen.
Aus einem Fenster klang das Lachen eines Radiosprechers, dann ein Jingle, den ich seit Jahren nicht mehr gehört hatte.
Links ein verfallenes Haus, das schon zu meiner Kindheit leer stand. Ich hatte mich dort früher mal mit einem Freund hineingeschlichen – gefunden haben wir nur einen kaputten Ventilator, eine tote Echse und eine Matratze mit undefinierbaren Flecken.

Ein Stück weiter saß eine alte Frau unter einem Mangobaum, auf einem wackligen Plastikstuhl, mit einem Schirm über dem Schoß.
Sie döste. Ihre Lippen bewegten sich leicht – vielleicht war sie im Gebet. Ein Rosenkranz in ihrer Hand deutete zumindest darauf hin.

An der Kreuzung vor dem alten Obstladen stand ein Junge auf einem umgebauten Fahrrad.
Auf dem Gepäckträger saß ein alter Mann – eingefallen, klapprig, mit einer Decke über den Beinen, der Temperaturen zum Trotz.
Die Haut wie zerknittertes Papier, das Gesicht nur noch Schatten unter einem Strohhut.

Ich brauchte einen Moment, um ihn zu erkennen. Uncle.
Früher hatte er mich jeden Sonntag mit zum Angeln genommen, stundenlang am Pier gesessen und von alten Spielen erzählt, als wäre er Maradona höchstpersönlich begegnet.
Ich weiß noch, wie er immer zu mir sagte, ich solle etwas aus mir machen.
Jetzt sah er kaum noch hoch, doch als ich vorbeiging, blinzelte er mir zu – nur kurz. Kein Wort. Nur ein kaum sichtbares Lächeln.
Ob es ihm schlecht ging? Ich war in Eile. Vielleicht konnte ich später mehr erfahren. Ich nickte stumm zurück.

Der Weg führte vorbei an einem leerstehenden Friseurladen – die Fenster blind, das Schild abgeblättert.
Früher war hier samstags die Hölle los gewesen: Maschinen surrten, irgendwo lief ein Fußballspiel im Radio, und draußen warteten Väter mit kreischenden Kindern auf ihren Buzzcut oder ihre Cornrows.

Ich versuchte, mich nur aufs Gehen zu konzentrieren. Jeder neue Blick war eine andere Erinnerung.
Zeit fürs Sightseeing hatte ich wann anders – es war bereits viertel vor zehn.

Ich trat über die letzte Kreuzung. Nur noch ein Stück die staubige Zufahrt entlang. Mein Schritt wurde fester, der Rucksack rutschte leicht, aber ich spürte, wie sich etwas in mir sortierte.

Ich war da.
Zielstrebig ging ich Richtung Kabine. Hoffentlich war Mr. Bradshaw ebenfalls da – so müsste ich nicht komplett bei Null starten.
Das Glück des Tüchtigen: Er stand bereits auf dem Parkplatz und schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk.

Zehn Minuten zu früh war akzeptabel – meiner Ansicht nach.
Bradshaw schien erleichtert, als er mich sah.
Hatte er befürchtet, ich kneife?

„Schön, dass du gekommen bist“, sagte er und gab mir die Hand.
„Hatte ich denn eine Wahl?“
„Eigentlich nicht“, schmunzelte er und ließ meine Hand diesmal unzerquetscht wieder los.
„Dann wollen wir mal“, sagte ich und ging betont selbstbewusst voran.

Auffällig war, dass uns diesmal kein Gestank entgegenkam, als wir die Tür zu den Kabinen öffneten.
Musik war ebenfalls keine zu hören – von Geschrei oder Gesprächen ganz zu schweigen.
Als wir durch die hinterste Tür in unsere Kabine traten, bot sich ebenfalls ein ganz und gar gegensätzliches Bild zu unserem letzten Besuch:

Die Spieler saßen still, aufgereiht und bereits fertig angezogen auf den billigen Sitzflächen.
Alle blickten uns erwartungsvoll an – auf mir ruhten zusätzlich einige fragende Augenpaare.
Kurzes Getuschel unter den Spielern.
Der Co-Trainer, der bis jetzt ebenfalls in einer Ecke gesessen hatte, stand auf, stellte sich neben uns und wollte gerade anfangen, eine Rede zu schwingen –
da stieß Mr. Bradshaw ihm seinen fleischigen Ellenbogen in die Seite, und er verstummte abrupt mit schmerzverzerrter Miene.


„Das sieht doch schon mal ganz gut aus“, begann Bradshaw in einem versöhnlichen Ton.
Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, ging ein paar Schritte nach vorn, die Hände auf dem Rücken verschränkt wie ein Admiral im Halbschatten.
Die Spieler rückten unwillkürlich etwas gerader auf den Bänken.

Seine Stimme war ruhig, aber deutlich.

„Ihr fragt euch sicher, warum wir uns schon vor der offiziellen Saisonvorbereitung treffen. Und was jetzt eigentlich passieren soll, nachdem wir uns vom bisherigen Trainer getrennt haben.“

Einige der Spieler bewegten sich leicht auf ihren Plätzen, keiner sagte etwas.
Der Co-Trainer stand weiterhin steif neben Bradshaw und nickte langsam – zustimmend oder sich selbst motivierend, das war nicht ganz klar.

„Ich weiß, dass unser lieber Co-Trainer Jazza Buchanan hier denkt, er wäre der geeignete Kandidat, um die Mannschaft in die neue Saison zu führen.“
Bradshaw machte eine Pause.

Jazza Buchanan richtete sich ein paar Millimeter auf. Brust raus, Kopf leicht geneigt.
Sein Blick schweifte prüfend durch die Kabine, als wolle er die Zustimmung der Spieler schon im Voraus ernten.

„Aber... da er ja letzte Saison auch mitverantwortlich war für das, was man nur mit Wohlwollen eine Katastrophe nennen kann, hab ich mir gedacht: Wir brauchen einen neuen Ansatz, neue Ideen. Frischen Wind. Einen anderen Blick auf die Dinge.“

Der Co-Trainer zuckte sichtbar zusammen. Bradshaw fuhr ungerührt fort.

„Deshalb hab ich mir etwas überlegt. Vielleicht kennt ihn der ein oder andere von euch noch, denn er ist von hier.
Er kennt die Insel, den Verein, den ganzen Dschungel hier – und er war immer einer, der Dinge schnell einordnen und die richtigen Schlüsse daraus ziehen konnte.
Er hat sich in London, an renommierten Universitäten, weitergebildet, ist taktisch auf dem neuesten Stand und auch in der Trainingsthematik können wir bestimmt neue Ansätze verfolgen und uns so einen gewinnbringenden Vorteil gegenüber der Konkurrenz verschaffen.
Außerdem glaube ich, wenn wir ihm zuhören und seine Ideen umsetzen, haben wir eine echte Chance, direkt wieder aufzusteigen.
Ich weiß, das Ganze birgt ein gewisses Risiko. Aber ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen, weil ich glaube, dass wir zusammen etwas Großes erreichen können.“


Er ließ eine letzte Pause, dann hob er leicht die Hand.
„Also: Ich möchte euch euren neuen Cheftrainer vorstellen.
Coach Johnathan Whitecliffe.“


Kurzer Applaus. Skeptische Stirnfalten. Vereinzeltes Nicken.
Die Luft im Raum schien kurz still zu stehen, als alle auf den nächsten Ton warteten.

Der Co-Trainer starrte Bradshaw an wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Verwirrt. Enttäuscht. Geschockt. Alles auf einmal.
Ich trat einen Schritt vor.

„Morgen zusammen. Ich fühle mich geschmeichelt, aber sie übertreiben ein wenig. Ich bin kein Heilsbringer oder sowas.
Kein Ex-Profi, kein Wunderkind, kein Typ aus dem Fernsehen, aber wie Mr. Bradshaw schon gesagt hat, komme ich von hier.
Einige von euch habe ich schon spielen sehen, als ihr noch klein wart und ich glaube, ich hab einen ganz guten Überblick, wo wir stehen – und wie weit wir kommen können.
Ich weiß, das kommt für die meisten von euch überraschend – für mich ehrlich gesagt auch.
Jedoch stimme ich Mr. Bradshaw zu: Wenn wir alle zusammen an einem Strang ziehen, keiner einen Ego-Trip fährt und wir uns gegenseitig anspornen, dann kann es ganz nach oben gehen.
Wenn ihr wollt.
Euer größter Gegner in dieser Saison – das werdet ihr selbst sein. Schluss mit dem was war und Vollgas in das was kommt.“


Ich sah ein paar Blicke. Ernst. Fragend. Nicht feindselig – aber zurückhaltend. Verständlich. Ein paar jedoch hatte ich bereits bei ihrer Ehre gepackt – das konnte mir nur recht sein.

„Natürlich wird es unter meiner Leitung auch Regeln geben.
Aber solange ihr euch an die haltet – und nicht versucht, das ganze Projekt zu torpedieren – wird’s keine Probleme geben.

Ab jetzt sage ich, wie trainiert wird. Was trainiert wird. Wann trainiert wird. Und wie lange.

Und damit es keine Missverständnisse gibt:
Unser Co-Trainer Jazza bleibt uns erhalten und wird mir mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Ich weiß seine langjährige Erfahrung mit dem Team zu schätzen und er kennt einige von euch besser als ich es je könnte.
Das ist äußerst wertvoll und ich hoffe wir werden gut zusammenarbeiten.“

Ich ließ das sacken und wechselte den Ton leicht.

„Bevor wir tiefer einsteigen, will ich erstmal sehen, wie ihr euch bewegt. Vor allem die, die ich noch nicht selbst spielen gesehen habe.
Also – wir werden jetzt gleich raus auf den Platz gehen und ihr werdet einige Grundübungen mit Jazza durchführen.
Nachdem ich mir dann ein Bild gemacht habe, werde ich euch in Positionsgruppen aufrufen und euch meine Erkenntnisse mitteilen – danach werde ich noch ein paar Einzelgespräche führen und das soll es dann für heute gewesen sein.“


Buchanan stand regungslos da, die Lippen leicht geöffnet, als hätte jemand seine Denkblase eingefroren.
Er sagte nichts.
Was auch immer er sagen wollte – die Worte kamen nicht heraus.

Ich wandte mich nochmal an Bradshaw.
„Das war’s erstmal von meiner Seite.“

„Gut“, sagte Bradshaw. „Dann übergebe ich euch jetzt offiziell in die Obhut von Coach Whitecliffe. Ab jetzt macht ihr, was er sagt.
Und ich will keine Beschwerden hören.
Verstanden?“


Ein paar mehr klatschten diesmal. Nicht euphorisch – aber lauter.
Einige blieben einfach sitzen, als hätte ihr Hirn die Nachricht noch nicht verarbeitet.

Bradshaw hob die Augenbrauen. „Na los. Auf, auf.“

Die ersten standen auf.
Dann weitere.
Und schließlich bewegte sich die ganze Mannschaft langsam zur Tür.

Ich nahm meinen Rucksack, zog die Kappe vom Kopf, wischte mir den Schweiß ab – und trat hinaus auf den Platz.
Der erste Schritt auf dem Weg nach oben.
Oder nach ganz woanders.


Trainingsbeginn & erste Eindrücke


Sie traten hinaus auf den Platz – heute ohne Flipflops, ohne Fast-Food-Finger und ohne Stöpsel in den Ohren.
Stattdessen kurze, gespannte Blicke, ein paar nervöse Gesten – und der flache Befehlston von Jazza Buchanan, der sich sichtlich Mühe gab, professionell zu wirken.
Vernünftig gekleidet. Fokussiert. Kein Lächeln, kein Gemaule.
So also sah es aus, wenn es ernst wurde.

„Positionsgruppen!“

Ein kurzes Zögern, dann begannen sich Grüppchen zu bilden.
Die ersten, die sich bewegten, waren die Keeper.

Adolphus Jones marschierte gemächlich in Richtung des Tores, als hätte er das schon tausendmal gemacht – was wahrscheinlich sogar stimmte.
Sein Gang war überraschend leichtfüßig. In den Schultern lag eine gewisse Würde.
Der Mann war für seine 40 Jahre noch relativ beweglich und ließ sogar einige der jüngeren Keeper alt aussehen – doch er wusste, dass seine Zeit bald ablief.
Seine Reflexe waren nicht mehr die besten, dafür traf er mit seiner Erfahrung meistens immer noch die richtigen Entscheidungen.
Vielleicht konnte er für die letzten Saisons noch ein Führungsspieler für uns werden – wer wusste das schon.

Hinter ihm – ein gutes Stück zu schnell – kam Kendale Somersall hinterhergestürmt.
Mit seinen 15 Jahren noch nicht ganz ausgewachsen, aber quirlig, drahtig, mit glänzenden Augen.
Er hatte noch nicht viel gesehen – aber er wollte unbedingt gesehen werden.
Sein Blick huschte zu mir. Ich erwiderte ihn.
Er grinste verlegen und nahm seinen Platz ein.

In der Abwehr sammelte sich die geballte Routine.
Kassall Greene war einer von der alten Sorte.
39 Jahre, tiefe Stirnfalten, kraftvoller Stand. Auch er machte für sein Alter zunächst einen noch recht fitten Eindruck.
Diesen Eindruck würde er später jedoch wieder revidieren.
Er sprach kein Wort, aber sein Blick sagte mehr als genug.

Neben ihm trat Mudassa Howe an – zwei Jahre jünger, doch genauso abgeklärt.
Er sah ebenfalls aus, als stünde er noch im Saft. Dazu hatte er eine gewisse Aura, und die Mitspieler schienen ein Stück weit zu ihm aufzuschauen.
Ich meine, in ihm den Tänzer vom letzten Mal wiederzuerkennen – war mir aber nicht sicher.
Wenn ja, war das ein ganz schöner Bruch zwischen Rhythmusgefühl und Rasenrealität.

Der dritte im Bunde war Dihjorn Simmonds. 26 Jahre, technisch limitiert, gut im Tackling und Stellungsspiel.
Ihm sah man deutlich an, dass er jünger war als seine beiden Kollegen – viel spritziger, viel fitter.
Keine Schönheit mit dem Ball, aber verlässlich wie ein Türstopper.
Wird höchstwahrscheinlich in der Startelf spielen.

Clyde Mitcham fiel ein wenig ab. Der 30 Jahre alte Innenverteidiger war groß und schwer. Beweglich wie ein Sack Zement.
Immerhin hielt er sich für erfahren – und das reicht manchmal, um Spiele nicht zu verlieren.
Oder zumindest nicht direkt abzuschenken.

Malique Roberts, 23 Jahre alt, klein und schmal. Seine Position: rechter Verteidiger.
Insgesamt wirkte er nicht besonders fit und müsste noch einige Stunden im Kraftraum verbringen –
wenn wir denn einen haben. Das müsste ich noch in Erfahrung bringen.

Kezandre Buchanan war das Gegenstück auf der linken Seite.
Ein Jahr jünger, vielleicht einen Tick nachdenklicher, aber genauso konzentriert.
Er hatte sich bisher nichts anmerken lassen – kein Gemurmel, kein Schulterzucken.
Körperlich schien alles in Ordnung zu sein, ich konnte ihn aber noch nicht so gut einschätzen.
Einer, der wohl lieber trainierte als redete.
Das mochte ich schon mal.

Im Mittelfeld war Kervin Benjamin beheimatet. Ein ebenfalls erfahrener, kompakter Spieler, der sich nicht viel anmerken ließ.
35 Jahre war er alt, und auch ihn konnte ich erst später richtig beurteilen.
Vielleicht ein Taktgeber, vielleicht ein Mitläufer – mal schauen.

Als nächstes fiel ein Brüderpaar auf, das altersmäßig etwas auseinanderlag.
Zunächst war da Evansroy Barns, 28 Jahre – wirkte etwas übermotiviert.
Der jüngere war Kimaree Barns, 15 Jahre, eigentlich ein Kind – war aber schon einen Kopf größer als sein Bruder.
Insgesamt ein krasser Gegensatz: schlanker, eleganter, mit Technik wie aus dem Lehrbuch.
Er hielt den Ball eine Zeit lang hoch und ließ ihn zwischendurch auf seinem Kopf oder dem Rücken ruhen.
Körperlich war er jedoch schwach, seine dünnen Ärmchen konnten kaum den Ball halten, als er ermahnt wurde, leise zu sein.
Man sah, dass er noch lernen musste, sich zu behaupten – und regelmäßig zu essen.
Potenzial war zweifelsfrei vorhanden.
Wenn wir den durchbringen, reden in fünf Jahren ganz andere Leute über diesen Platz hier.

Der jüngste Feldspieler im Kader war D’Vontrelle Williams – auch körperlich schmächtig, mit einem permanenten Funken Übermut in den Augen.
Noch roh, aber nicht auf eine schlechte Art.
Er hatte diese unberechenbare Energie, die entweder zum Vorteil auf dem Feld wurde – oder in Frust umschwang, wenn es nicht lief.
Heute schien er gut drauf zu sein.
Solche Spieler sind wie Streichhölzer – sie bringen Licht, oder sie zünden dir die Hütte an.

Auf dem Flügel sah sich: Morgan Prendergast. Ebenfalls 15 – einer von zwei Spielern mit Eltern, die wie meine auch, aus England eingewandert waren.
Er schien recht fit und mutig – leider aber auch mit dem Ehrgeiz eines Beamten am Freitag, kurz vor Feierabend.
Vielleicht hilft ihm ja ein bisschen Feuer unterm Hintern.

Der Zweite mit britischen Wurzeln war Nick Wallace, 24 Jahre.
Auch er konnte kaum über die Grasnarbe gucken und war leicht wie eine Feder.
Er meinte, er könne auf beiden Seiten spielen und sei flink wie ein Wiesel.
Ich werde die Aussage auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen. Gründlich.

Dann gab es da noch Jayan Duncan, 29 Jahre.
Er wirkte äußerst spritzig und wies ein wenig arrogant darauf hin, dass er hier für die schönen Pässe verantwortlich war.
Da war ich ja mal gespannt.

Zuletzt die beiden, die sich fürs Toreschießen zuständig sahen.
Zum einen: Vinceroy Nelson, 28 Jahre alt, schien ebenfalls von sich überzeugt – schließlich hatte er schon knapp 100 Tore geschossen.
Auch ihn werde ich beim Wort nehmen, dachte ich mir.
Auch er war keine 1,80 m, dafür ziemlich flink.
Auf Kopfballtore brauchen wir diese Saison wohl nicht zu setzen …

Der zweite war Carlos Bertie, knapp ein Jahr jünger – und er hatte etwas Kämpferisches an sich.
Sein Blick war direkt, fordernd, seine Bewegungen angespannt.
Nicht unkontrolliert – aber vibrierend vor Energie.
Er war ehrgeizig, das sah man sofort.
Vielleicht ein bisschen zu ehrgeizig.
Aber lieber zu viel Feuer als gar keins.

Ich erkundigte mich bei jedem, wo er am liebsten spielte, wo er zuletzt spielen musste und wie das für ihn funktioniert hatte.
Dann fragte ich noch, was sie denn zuletzt trainiert hatten –
wenn sie denn trainiert hatten.
Bei Jazza Buchanan erkundigte ich mich, wie er die Trainingseinheiten abhielt, und sagte ihm dann, dass er gleich mal zeigen sollte, wie er mit der Leitung des Trainings zurechtkam.
Ich wollte mich nämlich viel lieber mit der Taktik und den Gegnern beschäftigen, als mir Dehnübungen zu überlegen.
Ich würde lediglich einen Trainingsplan erstellen – und den konnte der Co-Trainer dann schön mit den Spielern abarbeiten.
Win-win. Für mich jedenfalls.

Die erste halbe Stunde gehörte also Jazza.
Er hatte ein kleines Programm vorbereitet: Bewegungskoordination, erste Passfolgen, etwas Stellungsspiel, ein kurzes Torschusstraining.
Nichts Komplexes – aber genug, um zu sehen, wo wir stehen.

Ich begab mich etwas abseits in den Schatten der alten Tribüne, zückte meinen Stift, verschränkte die Arme und begutachtete die Spieler beim Laufen.
Beobachten, nicht eingreifen, sagte ich mir. Noch nicht.
Eine Pfeife hatte ich mir natürlich auch noch besorgt.
Vor allem für das Straftraining war sie enorm wichtig, dachte ich mir – und musste unweigerlich grinsen.

Der Ball lief anfangs noch etwas unrund durch die Reihen – trainiert hatten sie wohl schon länger nicht mehr richtig.
Nach einer Viertelstunde sammelte ich erste Eindrücke:

Adolphus Jones wirkte überhaupt nicht wie ein Lehrer unter Schülern.
Er bellte ein paar Kommandos, zeigte Kendale nicht, wie er die Arme besser spreizen sollte oder wie man sich schräg zum Ball stellt.
Viel Genörgel – keine Führungsstärke.
Schade. Ich hatte gehofft, dass er eine Art Mentor werden könnte.
Bei jedem Fang sah man: Er wusste genau, wo er stehen musste. Kein Zentimeter zu viel. Kein Sprung umsonst.
Er würde spielen, keine Frage. Kendale war noch nicht so weit.

Der Jungspund war ein Wirbelwind.
Er flog dem Ball entgegen wie ein Gummiball – manchmal grandios, manchmal übermotiviert.
Aber er hatte gute Instinkte.
Vielleicht faustete er ein bisschen zu viel, aber er hörte zu. Das ist mehr, als man von manchem Routinier sagen konnte.

Nicht einmal fünf Minuten dauerte es, bis die erste Szene für kollektives Kopfschütteln sorgte.
Beteiligt war: Nick WallaceHundeblick und die Körperspannung eines halb aufgeblasenen Luftkissens inklusive.
Er stand gerade frei und schaffte es nicht, einen flach zugespielten Ball unter Kontrolle zu bringen.
Beim Versuch, ihn nach der missglückten Annahme zu klären, prallte der Ball von seinem Schienbein zurück wie von einem Flipperautomaten – und traf Kervin Benjamin fast mitten ins Gesicht.

„Meine Güte, Nick – bist du so dumm oder tust du nur so?“ murmelte Buchanan und verschränkte die Arme.

„War’n Platzfehler,“ sagte Wallace – wobei der Ball in einem Umkreis von fünf Metern von nichts als Rasen umgeben war.
Vielleicht die einzige Stelle des gesamten Spielfeldes, die weder uneben noch verbrannt war.
Einige lachten kurz, andere verdrehten nur die Augen.

In der Abwehr zeigten Simmonds und Howe genau das, was ich erwartet hatte:
Abgeklärt. Klar in der Kommunikation.
Howe nicht der Schnellste, Simmonds nicht der Sprungstärkste – aber das wussten sie.
Stattdessen standen sie immer goldrichtig.
Einmal zog Simmonds Roberts zu sich heran, um ihm wortlos eine Lücke zu zeigen, die dieser gerade übersehen hatte.
Kein Wort verloren – aber genau die richtigen Zeichen gesetzt.

Auch Roberts selbst gefiel mir.
Dynamisch, aber kontrolliert.
Hatte ein gutes Auge dafür, wann er rausrücken und wann er absichern musste.
Bei einem der diagonalen Zuspiele rauschte er dem Ball hinterher, erwischte ihn noch knapp vor der Linie – und grinste zufrieden.
Konnte im Passspiel noch zulegen, in der Defensive lief es schon ganz gut.

Kezandre Buchanan spielte solide, fast unauffällig.
Aber jedes Tackling saß, jede Entscheidung war die richtige.
Ich markierte ihn innerlich als stillen Arbeiter mit Potenzial.
Auch er konnte kräftemäßig noch einiges zulegen.
Lieber ein leiser Arbeiter als ein lauter Selbstdarsteller.

Die nächste Szene glich einer amerikanischen Sitcom – die Lacher inklusive.
Greene, der 39-jährige Innenverteidiger mit der Antrittsstärke eines Kühlschranks und der Balance eines umgestoßenen Bierzelttischs, war aus dem Stand diagonal angelaufen, um den Ball abzufangen.
Greene trat an – oder besser gesagt: er entschied sich dazu, sich zu bewegen.
Sein erster Schritt war schwerfällig, der zweite klang nach Mühe.
Nach fünf Metern überholte ihn der Gegner.
Nach acht Metern war er außer Atem.
Nach zehn Metern kam er an – der Ball längst im Tor.
Ein Körperklaus par excellence.

Howe kam dazu, grinste und reichte ihm die Hand wie einem alten Freund.
„Gang nicht gefunden, Kassall?“

„Ha, ha … musst du gerade sagen mit deinen 100 Kilo.“
„Ich hab 20 Kilo abgenommen diesen Sommer – siehst du das nicht?“
Howes Stimme klang richtig stolz.
Ein paar Jungs lachten. Greene schüttelte den Kopf, lächelte aber ebenfalls – der Mann konnte auch mal über sich selbst lachen.

„Dann wiegst du jetzt genau so viel wie ich, was? – Könnten immer noch 10 runter!“

„Schluss mit lustig!“, beendete Jazza das kleine Wortgefecht.
„Wird Zeit, dass ihr wieder in Form kommt.“

Jayan Duncan tat sich anfangs schwer mit dem Passspiel unter Druck.
Er wirkte zögerlich, abwartend, kommunizierte selten.
Doch je länger die Übung andauerte, desto sicherer wurde es – er blühte förmlich auf.
Zwei Mal passte er gut in die Schnittstelle, einmal rettete er sogar in letzter Sekunde mit einer Grätsche.
Auch wies er zwischendurch andere Spieler auf freie Räume hin.
Eventuell ein Führungsspieler? Wäre schön, wenn er diese Leistung konstant zeigen würde.

In einer anderen Übung war Kervin Benjamin an der Reihe.
Er stoppte den Ball überraschend elegant mit der Innenseite, drehte sich … und versuchte, einen Sprint anzuziehen.
Es blieb bei dem Versuch.
Entweder lief er in Zeitlupe – oder wir hatten einen zweiten, kleineren Kühlschrank in unseren Reihen.
Die elegante Ballannahme war wohl seine einzige Stärke.

„Dafür zeigt er Einsatz und kann ab und zu einen brauchbaren Pass spielen,“ sagte Jazza, der meine Gedanken zu lesen schien.

Zwischenzeitlich stolperte Morgan Prendergast über seine eigenen Schnürsenkel.
Ein Sprint mit Ball endete mit dumpfem Aufprall auf dem harten, braunen Rasen.
Danach blieb er wie ein Einkaufswagen auf dem Parkplatz im Weg liegen – und simulierte.
„Er sei gefoult worden", behauptete er – alle wussten, dass dem nicht so war.

Derweil versuchte Clyde Mitcham ein Dribbling – und verlor den Ball an ein Hütchen.
Ja, es gab definitiv noch einiges zu tun.

Und vor dem Tor?
Nelson war … eine Erscheinung.
Seine Abschlüsse wirkten lässig – fast zu lässig.
Doch der Ball zischte trotzdem in die Ecke.
Er zeigte einige feine Abschlüsse, doch dann versuchte es Nelson wieder per Hacke mit dem Rücken zum Tor.

„Du bist nicht im Zirkus, Vince.“

„Ist doch ein guter Trick, Coach.“

„Toller Trick, wenn man dabei das Tor verfehlt.“, rief Jazza verärgert.

Bertie war das Gegenstück: zielgerichteter, leiser.
Er rief nicht quer über den Platz, wenn ihm ein Pass nicht sauber kam oder er unbedingt den Ball haben wollte.
Trotzdem war er einigermaßen aggressiv – aber nie drüber.
Sogar das ein oder andere Kopfballtor gelang ihm.
Mir gefiel das.

Und dann – als alle schon dachten, der erste Teil wäre vorbei – kam Leon Morimoto.

Der kleine Halb-Japaner aus Guam betrat den Platz wortlos, den Blick konzentriert, die Bewegungen geschmeidig.
Einige Spieler nickten ihm zu, Buchanan jedoch machte große Augen.

„War der nicht schon mal hier?“

Bradshaw kam auf den Platz und verkündete, dass es ihm gelungen sei, Leon davon zu überzeugen, dem Ganzen doch noch eine Chance zu geben – da vorgestern nicht repräsentativ für unseren Verein gewesen sei.

Ich musste zugeben, damit hatte ich nicht gerechnet. Nach diesem Anblick hätten viele schnell das Weite gesucht.

Morimoto wärmte sich am Rand auf.
Als er schließlich in die nächsten Ballstaffetten eingebunden wurde, war er laut zu hören – er dirigierte die Abwehr, und seine Bewegungen waren schnell.
Offensiv schlug er ein paar tolle Flanken, und auch viele seiner Entscheidungen waren exzellent.
Von dem stillen Einzelgänger aus der Kabine war nichts mehr zu sehen.
Er nahm sich wohl die Phrase – „Was zählt, is’ auf’m Platz“ – sehr zu Herzen.

Wenn er bliebe, wäre er einer unserer besten Spieler – daran gab es keinen Zweifel.
Auch wenn er lediglich 1,69 m groß und 57 kg leicht war.


Nach knapp über einer Stunde klatschte ich laut in die Hände.


Es war an der Zeit, mit den Gesprächen zu beginnen.

Die Gruppe sammelte sich im Halbkreis vor mir.
Einige atmeten schwer, andere schauten gespannt.

Ich trat einen Schritt nach vorn.

„Danke für euren Einsatz. Ich habe mir schon ein ganz gutes Bild von euch machen können.
Ich möchte jetzt mit einigen von euch kurz besprechen, was ich gesehen habe und wie ich eure Rolle hier einschätze.
Alle anderen haben Pause. Es gibt Wasser, Bananen, Schatten – sucht euch was aus.“


Erst jetzt fiel mir auf, dass Mervin gar nicht anwesend war.
Ich fragte Bradshaw, ob er sich bei ihm abgemeldet hatte oder ob er wusste, was los war.
Er wirkte überrascht – anscheinend hatte er es bis eben auch noch nicht bemerkt.

„Weiß einer von euch, wo er steckt?“ fragte ich in die Runde der Anwesenden.
Schweigen. Nur das Zirpen der Grillen. Und dann ein leises: „Nein, Coach.“

Verdammt. Das musste aber bis später warten – wir hatten auch so noch genug zu tun.

Die Spieler sammelten sich am Rand des Platzes, während ich meine Notizen durchging.
Schweiß lief in feinen Linien ihre Schläfen hinab, vereinzelt tropfte es von Kinn oder Trikotkragen.
Die Sonne brannte inzwischen erbarmungslos vom Himmel – und auch ich konnte meine Anspannung nicht ganz verbergen.
Nicht, weil ich unsicher war – sondern weil ich wusste, dass jetzt die ersten wichtigen Weichen gestellt wurden.

Ich wandte mich an die Torhüter.

„Jones, Somersall – ihr zuerst.“

Die anderen begaben sich Richtung Bank und Schatten, stürzten sich auf Wasser und Obst wie die Geier.

Adolphus Jones, der alte Haudegen, kam mit breiter Brust voran.
Die Gelenke knirschten sicher bei jedem zweiten Schritt, aber sein Blick war ruhig, wach, voll Fokus.
Neben ihm – Kendale Somersall, schmal wie ein Pfosten, Trikot und Handschuhe eigentlich noch zu groß.

Ich deutete auf Jones.

„Du warst heute sehr solide. Man sieht, dass du Erfahrung hast. Auch wenn du nicht mehr fliegst wie mit zwanzig – du stehst aber meistens schon richtig. Und das ist es, was zählt.“

„Ich tu, was ich kann.“

Ich grinste.

„Und das sieht man. Du bist gesetzt – daran gibt’s nichts zu rütteln.“

Dann wandte ich mich an den Jungen.

„Kendale, für dich gilt: Entwicklung. Du bist noch grün hinter den Ohren – aber du hast heute alles versucht und Einsatz gezeigt.“

Er sah mich mit großen Augen an, etwas eingeschüchtert.

„Du bist nicht hier, weil du schon ein fertiger Spieler bist. Sondern weil du dich verbessern sollst.
Nutz die Zeit, beobachte, frag viel. Und wenn du dran bist – gib alles. Ich glaub, du kannst dich hier festbeißen.“


Er nickte schüchtern.

„Torwart ist ein undankbarer Job. Nur einer spielt – aber zwei müssen immer bereit sein. Du wirst Spielzeit kriegen. Wenn du dafür bereit bist.“

Als Nächstes rief ich die Verteidiger.

Ich nickte ihnen zu.

„Ihr fünf – das war schon sehr ordentlich. Simmonds, du hast das Spiel gut vor dir gelesen. Viel gesprochen, viel gecoacht.
Du wirst zusammen mit Mudassa den Laden hinten dicht machen.“


Greene wirkte ein wenig enttäuscht, verzog jedoch keine Miene und blieb stumm.

Greene, du warst heute … solide. Ich plane dich auf jeden Fall weiterhin mit ein – wir beide wissen aber, dass das eher für den Notfall ist.“
Zu sagen hatte er weiterhin nichts.

Ich blickte die beiden Außen an.

„Malique – flinke Füße, gute Antizipation. Körperlich kannst du noch draufpacken, aber das kriegen wir hin. Du bist hinten rechts gesetzt.“

„Kezandre, bei dir ist’s ähnlich. Du bist ruhig, hast Übersicht, aber manchmal etwas zögerlich im Zweikampf. Das musst du abstellen.
Ich will keinen Außenverteidiger, der mit angezogener Handbremse spielt.
Trotzdem: Du hast heute einen guten Eindruck gemacht – abwarten, wie Morimoto sich entscheidet, aber auch du wirst spielen und deine Minuten bekommen.“


Die beiden nickten.

Dann winkte ich die beiden Angreifer heran: Vinceroy Nelson und Carlos Bertie.

Nelson kam mit breiten Schultern und einem Grinsen, das zu sagen schien: Endlich einer, der was rafft.

„Vinceroy – du hast Instinkt. Die Laufwege, der Riecher, das Gespür für die Lücke – das war stark.
Am Ball noch etwas sauberer spielen, dann bist du schwer zu stoppen. Und lass diesen Zirkusscheiß – das hast du gar nicht nötig.“


„Ich bin heiß, Coach.“

„Schön. So will ich das sehen.“

„Carlos, du hast das Spiel breiter gemacht, dich gut bewegt. Deine Abschlüsse waren nicht immer optimal, aber du warst da, wo’s gefährlich wird – und besonders gut im Pressing.
Das ist viel wert. Ich denke, du und Vinceroy – das könnte passen. Viel anderes bleibt uns aber auch gar nicht übrig. Viele der Jungen sind einfach noch nicht bereit.“


Er nickte nur und schob sich einen Schweißfilm von der Stirn.

Ich erklärte einigen jungen Spielern, dass sie sicherlich auch ein paar Spiele machen werden – und sie sich im Training reinhängen sollen.
Ihre Chancen stehen umso besser, je mehr Einsatz sie im Training zeigen.

Den Reservisten erklärte ich ebenfalls ihre Rollen – und einige waren ganz und gar nicht erfreut darüber, wie ich ihre Qualitäten einschätzte.
Ein Wortgefecht wollte sich zu diesem Zeitpunkt jedoch noch niemand mit mir liefern – einige ließen jedoch erkennen, dass sie das nicht einfach so auf sich beruhen lassen werden.
Ich bin gespannt, wie sich das in den nächsten Wochen entwickelt.

Als Nächstes musste ich in Erfahrung bringen, was mit Mervin los war – eigentlich sollte er doch zentraler Bestandteil des Mittelfelds werden.
Ohne dass ich wusste, was los war, konnte ich den Spielern auf dieser Position noch keine genauen Versprechungen machen – und verlegte unser Gespräch auf das nächste Training.

Für heute sollte es das erst mal gewesen sein, und wir schickten die Spieler zum Duschen.
Einige von ihnen mussten sich schnell umziehen, da sie noch auf ihre Arbeitsstellen mussten.
Keiner der Spieler war hauptberuflich Fußballer. Alle gingen einer geregelten Arbeit nach und bekamen lediglich eine Aufwandsentschädigung für ihre Dienste beim Verein.

Deshalb legten wir fest, dass wir dienstags und donnerstags trainierten – abwechselnd morgens und abends, je nachdem, wie die Arbeitszeiten der Spieler es zuließen.

Ich wusch mich ebenfalls – und bereitete mich darauf vor, ein unangenehmes Telefonat mit einem gewissen Jemand zu führen.






Torhüter



   








Verteidigung



                      







Mittelfeld



                   






Sturm



          
           
« Letzte Änderung: Gestern um 23:18:41 von steffanovic »
Gespeichert
*13.Dezember 2009©