So, ich habe die gesamte Doku bei arte jetzt Häppchenweise angeschaut. Sie betrachtet - wenig überraschend - die ganze Thematik deutlich differenzierter, als es in dem 7-Minuten-Youtube-Ausschnitt den Eindruck macht. Aber man greift sich halt das raus, was der eigenen Anschauung entspricht und nutzt das für die eigene Agenda, gell? Rosinenpickerei muss so schön sein, würde ich auch gerne tun, aber es ist halt ein bisschen komplexer. Dunning-Kruger lassen grüßen.
Zurück zur Doku: Ich finde die durchaus sehenswert. Der Fokus liegt dabei ganz klar auf der Kritik und den negativen Folgen der Maßnahmen (würde schätzen mindestens 3/4 der Zeit) und weniger auf dem Coronavirus selbst, wodurch die Perspektive natürlich recht einseitig ist. Das ist aber gar nicht weiter schlimm, weil so eine thematische Fokussierung ja auch hilfreich sein kann. Man muss aber eben immer nur bedenken, dass das ein Teil des Gesamtbildes ist.
Mit dem Großteil der vorgebrachten Kritik gehe ich auch mit. Ich versuche das mal peu à peu aufzuschlüsseln:
Kommunikation
Das Ziel der Maßnahmen, die Vermeidung eines überlasteten Gesundheitssystems und in dessen Folge zusätzliche Tote ohne Covid-19, wurde besonders im Frühjahr sehr gut und klar kommuniziert. Auch klar kommuniziert wurde, dass uns die Pandemie noch lange beschäftigen wird. Ebenso kann man die Apelle an die Eigenverantwortung seitens der Kanzlerin und mehrerer Landesregierungen durchaus als Versuche werten, die Bürgerinnen und Bürger mit ins Boot zu holen. Darüber hinaus finde ich aber, dass gerade in Bezug auf Kritik der Maßnahmen eine kommunikative Front aufgebaut wurde, die eine Art Wagenburgmentalität erzeugt. "Wir" gegen "die" und "das Virus". Das kann man nun positiv oder negativ sehen. Ich halte es für problematisch, wenn eine Regierung berechtigte Kritik an einem einmal eingeschlagenen Kurs eher ignoriert, anstatt zu versuchen, das aufzunehmen. Das ist natürlich stark verkürzt, aber ich denke, die Stoßrichtung ist klar.
Eigenverantwortung
Ganz klar, je mehr Eigenverantwortung den Individuen in der Gesellschaft übertragen wird, umso höher ist die Bereitschaft, die dann noch existierenden Maßnahmen mitzutragen. Hier wurde in der Doku wiederholt der Vergleich zu Schweden gezogen (90% Zustimmung zu den Maßnahmen). Letztlich ist das auch eine Frage des Ansatzes: was wiegt höher, die individuelle Freiheit oder der Schutz der Gesellschaft? In dem Zuge kann man auch die Frage stellen, welche Gründe hat das aktuelle Abflachen der Kurve hat, wie viel vorauseilende Eigenverantwortung da schon mit reinspielt und ob das ausgereicht hätte, um den Kollaps des Gesundheitssystems zu vermeiden. Drosten geht darauf auch in der aktuellen Podcastfolge ein und identifiziert mehrere potenzielle Ursachen für das Abflachen (denn die am 2.11. in Kraft getretenen Maßnahmen können dafür noch nicht verantwortlich sein).
Grundrechtseinschränkungen
Ganz wichtiger Punkt und ich vermute, dass darüber auch ein breiter Konsens besteht: Grundrechtseinschränkungen müssen zeitlich klar befristet sowie verhältnismäßig sein und darüber hinaus gut begründet werden. Wir haben schon gesehen, dass Einschränkungen, bei denen das nach Auffassung der Gerichte nicht so war, von eben diesen wieder kassiert oder abgeschwächt wurden. Das ist gut so, das ist richtig so und hier ist eine permanente Debatte erforderlich, um die Balance zu halten. Die großen Unterschiede bestehen halt dann in der Bewertung dessen, was verhältnismäßig ist.
Umgang mit alten Menschen
Hier wird die Frage gestellt, ob es richtig ist, alte Menschen wegzusperren und zu isolieren. Menschen, die womöglich ohnehin nicht mehr lange zu leben haben, die Freuden zu nehmen die sie (noch) haben. Das ist eine extrem schwierige Frage und hier kann keiner für sich beanspruchen, die richtige Antwort parat zu haben. Auch hier wieder: Was wiegt höher, Gesundheit oder Freiheit? Man braucht gar nicht darüber diskutieren, dass das schlimm ist, wenn alte Menschen aufgrund der Maßnahmen vereinsamen, das wird niemand in Abrede stellen. Andererseits ist man selbst in Schweden mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass es ein Fehler war, die Alten im Frühjahr nicht besser zu schützen. Die Perspektive scheint sich aber mittelfristig mit den nun verfügbaren Schnelltests verbessern zu können, zumindest stellt z.B. Drosten das in Aussicht. Gerade für Pflegeheime erscheint mir das eine absolute Erleichterung der Situation zu sein.
Umgang mit und Folgen für Kinder und Jugendliche
Auch das ist ein Punkt, bei dem niemand behaupten kann, die eindeutig richtige Antwort zu kennen. Welchen Einfluss haben Maskenpflicht, Abstandsregeln usw. auf unsere Kinder? Welche Folgen tragen sie in ihrem Verhalten womöglich davon? Sicher Fragen über die man diskutieren muss, ganz abseits von der Priorität, Schulen und Betreuungseinrichtungen offen zu halten. Es ist ja immer noch nicht abschließend geklärt, wie sehr Kinder tatsächlich zum Infektionsgeschehen beitragen (vieles deutet mittlerweile aber darauf hin, dass sie eben doch ansteckender sind, als lange angenommen). Aktuell ist es jedenfalls so, dass Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte überproportional häufig von Covid-19-Infektionen betroffen sind.
Gefährlichkeit von Covid-19
Hier möchte ich lediglich auf einen in der Doku angesprochenen Kritikpunkt eingehen: Die Zahl der Coronatoten sei so gering, dass man dies vernachlässigen könne, als Vergleich wird Krebs angeführt. Zunächst ist dieser Vergleich Schwachsinn: Krebs ist keine sich schnell ausbreitende Infektionskrankheit. Außerdem haben Infektionsschutzmaßnahmen keine Auswirkungen auf Krebserkrankungen, auf Covid-19-Erkrankungen aber schon. Es wird immer wieder vergessen, dass die Todeszahlen so niedrig sind wegen der Maßnahmen.
Verlust der Diskussionskultur
In der Doku wird gesagt, dass sich ein Riss durch die Gesellschaft ziehe und man entweder auf der einen oder der anderen Seite stehe, dass man auch bei berechtigter Kritik schnell als "Covidiot" oder ähnliches bezeichnet wird. Da kann ich nur teilweise mitgehen. Ja, die Positionen sind in Teilen verhärtet und ja, als Kritiker gerät man schnell in Verdacht Schwurbler, Leugner oder sonstwas zu sein. Natürlich muss man berechtigte Kritik zulassen und sich damit auseinandersetzen. Das setzt aber eines voraus und das ist ganz wichtig: Das die Kritik auf einer Sachebene vorgetragen wird und ein gemeinsames Verständnis davon existiert, was Fakt, Meinung und Gefühl ist. Ist dieses Basis nicht gegeben, werden etwa Fake-News vorgetragen, wissenschaftliche Erkenntnisse als falsch abgetan und Rosinenpickerei betrieben, kann kein Diskurs über berechtigte Kritik stattfinden. Genau dieser Punkt macht für mich den eigentlichen Verlust an Diskussionskultur aus und wir durften das hier ja anschaulich erleben...