Aus linguistischer Sicht spielt es einen erheblichen Unterschied, ob du eine Sprache bis zum Alter von 4-6 Jahren erlernst oder erst ab dem 7. Lebensjahr damit anfängst. Bis etwa 6-7 kann man eine zweite Sprache quasi wie eine Muttersprache erlernen, danach kannst du sie zwar muttersprachenähnlich erlernen, aber aufgrund massiver Veränderungen im Gehirn ist der Lernprozess ein anderer, man unterscheidet daher den Erstsprach- (L1) und den Zweitspracherwerb (L2). Grundsätzlich hängt es auch von der eigenen Begabung, der Motivation und dem Unterricht ab, ob jemand bei L2 dann eine Sprache fließend erlernen kann, aber der Erwerb der sprachlichen Fähigkeiten ist eben ein anderer, wenn man älter als 7 Jahre ist.
Manche setzen die Grenze auch höher an, jedoch ist jeder Spracherwerb mit 14 Jahren und älter (und das dürftet ihr alle sein) ein Fremdspracherwerb. Ob ihr dann muttersprachliche Kenntnisse erlangt, hängt vor allem davon ab, wie regelmäßig ihr die Sprache nachher auch verwendet.
Die teils unterschiedlichen Konzepte der vorgeschlagenen Seiten klingen spannend. Ich denke, dass man auch ohne großes Vokabelpauken eine Fremdsprache erwerben kann, allerdings gilt da wohl die Voraussetzung, dass man die Fremdsprache unbedingt regelmäßig mit jemandem üben/benutzen sollte, der selbst Muttersprachler ist. Es kommt darauf an, in diesem Kontext dann so oft und so viel wie nötig zu kommunizieren, um sich nach und nach Redewendungen und übliche Wörter einzuprägen.
Nehmen wir mich als Beispiel. Deutsch ist (leider) meine einzige Erstsprache, ich wurde allerdings schon in der Grundschule mit Englisch konfrontiert (erst als AG, ab 5 dann als Pflichtfach) und kann inzwischen wesentlich besser Englisch kommunizieren, als noch während des Abiturs, weil ich im permanenten Austausch mit SI oder anderen HRs bin und demzufolge auf Englisch angewiesen bin. Auch habe ich diverse englische Filme, Serien usw. gesehen und lese relativ viel auf englischsprachigen Seiten. Dennoch ist es eine Fremdsprache für mich, da ich nicht immer alle Vokabeln kenne und gerade im mündlichen Bereich die Praxis fehlt und dann in Gesprächen natürlich auch die Zeit fehlt, die man bei einer schriftlichen Konversation einfach hat.
Ein anderer Fall ist Bulgarisch. Das habe ich ebenfalls im Alter von 5-6 kennengelernt, jedoch erfolgte hier das Lernen wesentlich unstrukturierter, da ich es immer nur im teilweise wochenlangen Urlaub bei Oma und Opa auf dem Dorfe erlernt habe. Meine Eltern haben es leider versäumt, dann auch in Deutschland Situationen herzustellen, in denen wir regelmäßig Bulgarisch üben. Deshalb dauert es bei mir bei Besuchen in BG meist 3-4 Tage, bis ich mich gedanklich auf Bulgarisch eingestellt habe. Ich verstehe sehr viel aus dem Kontext heraus, jedoch fehlen mir aufgrund der mangelnden Praxis häufig die Vokabeln und Grammatik habe ich nie richtig gelernt. Trotzdem bescheinigen mir alle Bulgaren, denen ich über den Weg gelaufen bin, dass ich mich sehr gut ausdrücken könne. Manch einer hat sogar schon gefragt, seit wann ich denn aus Deutschland zurück nach BG gekommen sei.

Zusammenfassend könnte ich sagen: Englisch beherrsche ich wesentlich besser, da ich es strukturierter gelernt habe und vor allem auch den Wortschatz in den letzten Jahren massiv erweitert habe, mir fehlt jedoch die mündliche Übung und ich habe "nur" die schriftliche Kommunikation als Übung. Bulgarisch kann ich zwar gut verstehen, mangels Wortschatz und mangels Übung bin ich bei meinen Antworten jedoch sehr limitiert. Dafür geht das Sprechen mir trotz fehlender Vokabeln leichter von der Hand, weil ich viele Floskeln kenne und sie problemlos einbringen könnte, während ich bei englischer Kommunikation (zumindest mündlich) eher formal bin, da mir Floskeln einfach fehlen, obwohl grundsätzlich ein großer passiver Wortschatz vorhanden wäre, den ich aber aktiv nur bedingt abrufen kann.
Lange Rede, kurzer Sinn: Praxis in gewohnten Kontexten mit Muttersprachlern ist in meinen Augen das A und O beim Spracherwerb. Kinder können problemlos 2-3 Sprachen gleichzeitig erwerben, solange jeweils klar wird, welche Sprache in welchem Kontext angebracht ist. Beispielsweise mit Mama immer auf Deutsch, mit Papa immer auf Bulgarisch und im Kindergarten auf Englisch (aber eigentlich nur, wenn derjenige im Kindergarten auch wirklich Englisch als Erstsprache erworben hat).
Edit: Eigentlich wollte ich nur kurz was schreiben und dann ist es doch wieder ein halber Roman geworden.
